Blutegel, Pfefferminzterzen

Ein Paket mit russischer Musik auf CD  ■ Von Irene Tüngler

Ein Paket CDs mit russischer Musik — hätte man bis vor kurzem gesagt, nun aber: russische CDs und eine litauische. Eine Art musikalischer Delikatessensammlung, herausgegeben von der französischen Edition „Saison Russe“.

Ein Huhn in Stalins Suppe

Zwitschernd in den höchsten Lagen singt Natalia Gerassimowa Lieder der zwanziger Jahre. Es empfiehlt sich, diese häppchenweise zu genießen; der hohe Sopran, begleitet vom kräftig traktierten Klavier, könnte in kompakteren Mengen ein wenig nerven. Dieser eher geschmäcklerische Einwand ist aber der einzige, der sich gegen Prokofjew, Luorié, Mossolow und Stscherbakow machen läßt. Die Lieder entstanden in der — ach so kurzen — fruchtbarsten Etappe, die russisch-sowjetische Künstler erleben konnten. Eine liberale und geistig freie Politik erlaubte auch nach der Revolution das Zusammengehen mit der europäischen Moderne. Mehr noch: Die vielfältigen neuen künstlerischen und gesellschaftlichen Ideale und Motivationen, darunter der schöne Traum, für ein unverbildetes und aufnahmebereites Publikum zu schaffen (es erwies sich als ein ungebildetes, ignorantes), machten russische Künstler auch im Ausland zu Führern der Avantgarde. Und dies ziemlich unabhängig von ihrem im engeren Sinne politischen Standpunkt, von ihrer Einstellung zur Sowjetherrschaft, von ihrer Überlegung, Rußland zu verlassen oder nicht.

Prokofjews Achmatowa-Lieder von 1916 leiten die Sammlung ein: temperamentvolle Miniaturen. Prokofjew ist der berühmteste unter den vertretenen Komponisten; derjenige auch, dessen Biographie nach den kurzen liberalen Zeiten tief von inneren und äußeren Zwängen, von Verdrängungen, subtilen Drohungen, Anpassungen ge- und verformt wurde. Schostakowitsch mochte ihn nicht. Er prophezeite, als er von Prokofjews Absicht hörte, aus Amerika und Frankreich nach Rußland zurückzukehren, der werde landen „wie ein Huhn in Stalins Suppe“. Ganz und gar fressen konnte Stalin ihn nicht, dazu war Prokofjew zu berühmt. Aber er konnte Charakter, Gesundheit und Schaffenskraft zermürben, mit jener perfiden und oft durchgespielten Terror-Skala, die von der Dekoration mit hohen Orden bis zur Ermordung des Künstler- Freundes Meyerhold reichte. Prokofjew und Stalin starben übrigens am selben Tag.

Arthur Louriés Lieder sind noch schlichter. Lourié nahm eine frühe postmoderne neue Einfachheit vorweg, obwohl er gleichzeitig mit Alexander Mossolow an der europäischen Untergrundstraße der musikalischen Moderne baute, die von den „intonarumori“, Geräuschinstrumenten des italienischen Malers Russolo in den zwanziger Jahren, bis zu John Cage, Dieter Schnebel und Georg Katzer führt. Lourié frönte der Viertelton- und Geräuschmusik, war Freund und hernach Feind Strawinskys, früher Vertrauter des liberal denkenden Volkskommissars Lunatscharski, später Emigrant. Mossolow, der ein furioses Klavierkonzert Sawood (Das Werk), geschrieben hat, ist mit „vier kleinen Anzeigen“ vertreten. Eine lautet: „Bekanntmachung. Wir geben bekannt, daß die besten Blutegel bei P.N. Artjomow verkauft werden.“

Zwiebeltürme im Weihrauchdunst

Eine der CDs ist den russisch orthodoxen Kirchengesängen gewidmet. Überkommen von den klösterlichen Männergesellschaften des 16. bis 18.Jahrhunderts werden sie heute von deren geistigen Nachfolgern, dem Ensemble „Altrussischer Gesang“, digital gespeichert. Bulgarische, griechische, Alt-Kiewer Gesänge, figuriert oder monodisch, können jeder deutschen Wohnstube ein originelles Ambiente verleihen. Unter Zwiebeltürmen im Weihrauchdunst vor verräucherten Ikonen am Ostertag, von jungen Männern dargeboten und von einer Unzahl alter Weiblein belauscht, wirken sie an ihrem Ursprungsort allerdings so selbstverständlich wie eine Bach-Motette in Leipzig oder Stuttgart, wie sonntägliches Glockengeläut in der Toscana.

Danach wieder etwas für den Erzmaterialisten in uns. Ein jeder kennt die Lieb' auf Erden, diese und fast zwei Dutzend anderer berühmter Baß-Arien in einer Doppelpackung. Glinka, Tschaikowski, Dargomyshski, Rimski-Korsakow, Borodin, Mussorgski — so heißen die besten russischen Komponisten im 19.Jahrhundert. Und die besten staatlichen, akademischen, russischen, großen Theater-Bassisten singen die besten Arien aus ihren besten Opern. Zar Boris Godunow resümiert sein Leben, der Mönch Pimen schreibt seine Chronik, Fürst Igor sitzt bei den Polowezern ein und sinnt auf Rache, selbst der wilde Waräger singt seinen wilden Gesang über das wilde Meer. Die russischen Solo-Baßpartien haben oft, im Gegensatz zu den imposanten „schwarzen“ Chorbässen, einen baritonalen Charakter; als lyrischer Baß repräsentiert Anatoli Safiulin diesen Typ. Noch homogener in den Registern seiner Stimme, mit samtenem Wohllaut, und — obwohl mit den „bassigeren“ Stücken betraut — mit noch mehr baritonaler Noblesse: Pjotr Gluboki.

Hexe-Teufel-Duettino

Nach soviel Sammlung eine komplette Oper: Die Nacht vor Weihnachten von Nikolai Rimski-Korsakow. Darin geht es um Hexenspuk und goldene Brautschuhe; die gesamte Dorfobrigkeit wird einzeln in die Kohlensäcke der attraktiven Witwe (und heimlichen Hexe) Solocha verstaut. Ein junger Schmied fliegt mit der Hilfe von Naturgeistern durch die Lüfte, um die Zarin zu besuchen. Mit christlichem Weihnachten hat das wenig zu tun; der Komponist und sein Textdichter Gogol spürten den ältesten kulturellen Wurzeln der Russen nach. In der Oper weben die slawischen Naturgeister Kolada, Owsen, Jarilo, Lada. Ihre Namen sind zugleich die heidnischer Festtage. Der Weihnachtstag, die Wintersonnenwende, kündigt einerseits die ferne Wiederkehr des Sommers an, andererseits brachte diese Zeit das unwirtlichste Wetter, und damit also Hexen, Teufel, eitle Obrigkeiten und was der auszutreibenden bösen Geister mehr sind. Folgerichtig leitet ein Hexe-Teufel-Duettino die Oper ein, und eine Hochzeit in den goldenen Tanzschuhen der Zarin beendet sie, allerchristlichst. Viel russische Lyrik und ausgezeichnete sängerische Qualiäten des verhältnismäßig jungen Ensembles machen den Reiz dieses tiefsinnigen Märchenspiels aus.

Rimski-Korsakows Opern wurde ein ähnliches Schicksal zuteil wie den Musikdramen Wagners und später dem Werk Brechts. Die Erben sterilisierten sie. Durch Heiligsprechung der Uraufführungen und -ausstattungen. Noch immer haften Kaftan, Sarafan und buntbemalte Holzhäuschen an Sängern und Bühne. Umso erquickender der pur akustische Genuß, dessen von Michail Jurowski dirigierte Nüchternheit eine moderne Optik fast zwangsläufig assoziiert.

Seide, Totenmal

Das edelste unter den Hauptstücken sind russische Klaviertrios, unter diesen wiederum Tschaikowskis berühmtes a-moll-Trio op. 50 (auch wenn es hier die Opuszahl 51 verpaßt bekam). Das Werk hat etwas vom verführerischen Luxus von Seide und Parfüm und ist doch ein Totenmal: ein Charakterbild von Tschaikowskis verstorbenem Freund, dem Musiker Nikolai Rubinstein.

Das erste Thema, ausgesungen im Cello und der Violine, schwelgt in Seligkeit, ganz frei von Ängsten und unerfülltem Sehnen — selten bei Tschaikowski. Dem folgt ein langer Variationensatz, der auf Natascha Rostowas ersten Ball entführt — Mazurka und Walzer à la russe leuchten zwischen musikgelehrtem Scheinkanon und Fuge — eine originelle Huldigung. Rubinstein war Tschaikowskis Chef am Moskauer Konservatorium. Auch der Finalsatz bemüht sich zunächst um lebensbejahende Energie, mündet dann aber in die große Trauerzeremonie. Das Stück ist eine Auseinandersetzung mit der menschlichen Endlichkeit: Es gibt dem Leben wie dem Tod seine unmgeschmälerten Rechte.

Außerdem in der Trio-Doppelpackung: das erste russische Klaviertrio überhaupt; pathetisch, elegant und jugendlich-nervös, von Michail Glinka, sowie gut gearbeitete Werke von Anton Arenski und Sergej Tanejew. Eine Platte der allerersten Wahl; man hört die Musiker (des Moskauer Trios) atmen, Lebenszeichen in der technischen Perfektion.

Litauen

Die dritte Großportion stammt aus Litauen. Kein russischer Laut wird erinnert, dafür ein ganzes deutsches klassisches Musiklexikon. Mikolajus Konstantinas Ciurlionis heißt der Komponist. Vielleicht hat man seinen Namen einmal gehört, wenn es in speziellen musikalischen Seminaren um die Herausbildung noch speziellerer nationaler musikalischer Schulen im Osten Europas ging. Vielleicht auch hörten die Maler von ihm: In Kaunas ist ein Museum seinen Bildern gewidmet. Ein ebenso ungekannter Musikwissenschaftler, Vytautas Landsbergis — sympathisch der Gedanke, daß Musikwissenschaftler Staatspräsidenten werden können — mußte bei allem Patriotismus einräumen: „Seine Schöpfungen sind, abgesehen von einem kleinen Kreis von Liehabern und Freunden, völlig verkannt.“

Das Erstaunliche an Ciurlionis ist, daß er zum Beginn des 20.Jahrhunderts Beethoven, Haydn und Schubert in einem Streichquartett beschwört, ohne daß es nach hoffnungslosem Zuspätgekommensein klingt. Sein sinfonisches Poem Der Wald emanzipiert sich von deutschem Hörnerklang und wilden Jägern. Der Osteuropäer ist nicht „vertraut mit jenem Grausen, das mitternachts im Walde webt“, sondern mit Tieren und Pflanzen, Stille und Sturm: wie Janaceks Naturwesen. In Das Meer gelang es Ciurlionis allerdings nicht, sich vom Über-Musiker seines Zeitalters zu emanzipieren. Vielfach geteilte flirrende Streicher, tiefe melancholische Klarinetten, aufbrodelnde Klangmassen, die endlos fortgesponnene Melodie — alles Ingredienzien und Aromen aus Wagners musikalischer Zauberküche.

Engelchöre und Pionierlieder

Süßere Töne hörte man nie als vom Knabenchor des Moskauer Bolschoi Theaters. So müssen Engelchöre im Himmel singen, so rein, so lieblich. Und sie singen ja auch einen englischen Gesang, spätromantische a cappella-Kirchenliturgie. Der zweite Teil dieser Platte bietet ein überraschendes Erlebnis: den aus Kindertagen vertrauten Tonfall sozialistischer Pionier- uind Jugendlieder. Allerdings handelt es sich um Chöre mit Klavierbegleitung von Sergej Rachmaninow. Die schönen Pfefferminzterzen müssen Stalin begeistert haben — mindestens zwei Komponistengenerationen waren diesem Klangmuster für kindliche und nicht nur kindliche Gemüter verpflichtet. Hanns Eisler immerhin räsonnierte: „Weil es zu schwierig ist. Deswegen werde ich nicht gespielt in unserer guten lieben DDR. Wenn man mich nicht spielt, ist der Musikbetrieb dumm. Warum soll man nicht Rachmaninow spielen, der immer ein Gegner der Sowjetunion war — sondern gerade Eisler, einen alten Kommunisten, nicht wahr? Man spielt Rachmaninow, aber nicht Eisler.“

Eisler, das Stichwort für die Moderne. Durch die „Saison Russe“ geistert sie in der Gestalt des Gespenstes von Canterville nach Oscar Wilde; auf Flügel des Gesanges gesetzt im Jahre 1965/66 durch den damaligen Leningrader und heute Sankt Petersburger Alexander Knaifel. Das Gespenst, ziemlich am Boden gehalten vom erdenschweren Baß Alexander Sulimanows, wiegt sich anfangs im Glanz seiner Missetaten, dann im Selbstmitleid über empfangene Schmach, bis es von Tatjana Monogarowas lieblichem Sopran sekundiert wird. Eine etwas bemühte Komposition, dem hochgestylten Libretto zuliebe. Statt der pfiffigen Groteske, die musikalisch sogar versucht wird, ergab sich ein Liebeserlösungswerk. Etwas strapaziös für Wildes vergleichsweise harmlose Satire auf Englands Traditionen und Amerikas Respektlosigkeiten.

Saison Russe, Le Chant du Monde, Acht CDs, davon drei im Doppelpack, Harmonia Mundi