Reggae, Ragas, Rock'n'Roll

England — die Weltmusik vor der Haustür  ■ Von Christoph
Wagner

Die Moss Side ist nicht gerade die erste Adresse in Manchester. Im Gegenteil: der Stadtteil ist als Problemgegend bekannt. Das überrascht nicht, wenn man den riesigen Wohnkomplex am Lingbeck Crescent sieht. Ziemlich heruntergekommen und halb verlassen gleicht er einer in Beton gegossenen gigantischen Bienenwabe. Es heißt, daß er bald abgerissen werden soll. „Nachts brechen hier die Jungen ein, um in den leeren Wohnungen ihre Partys zu feiern“, berichtet ein älterer Bewohner, den die widrigen Umstände noch nicht vertrieben haben.

Die wilden Acid-Rave-Partys von Manchester sind weit über die Stadtgrenzen hinaus berühmt. Irgendwo im zweiten Stock des trostlosen Wohnlabyrinths hat sich das „Ruff- Kut-Rehearsal-Studio“ eingemietet. Der Briefkastendeckel dient als Türklopfer. Ein Teenager macht auf. „Sie sind oben bei Proben!“ Der Fernseher läuft. An der Wand hängt ein Haile-Selassie-Plakat.

Eine Treppe hinauf und man steht mitten im Übungsstudio, wo gelegentlich einheimische Afro-Gruppen und Reggae-Bands vor Plattenaufnahmen ihre Musik auf Perfektion trimmen. Es besteht aus zwei kleinen Zimmern. Die Fenster des einen, des eigentlichen Probenraums, sind mit Eierschachteln gegen Lärm nach außen abgedichtet. Durch eine Trennscheibe kann man das Mischpult, zwei Lautsprecher und eine Bandmaschine im Kontrollraum sehen, mit denen Mitschnitte für Demo-Tapes gemacht werden können. Eine Probesession ist gerade in Gang. Tiefe Baßtöne kriechen aus den Boxen, das Schlagzeug groovt im Reggaebeat, trockene Gitarrenakkorde markieren den Gegenrhythmus, ein Akkordeon quietscht dazwischen, die Bläser setzen scharfe Akzente. Folk? Calypso? Jazz?

Die Band, die sich hier auf ihre dreiwöchige Englandtournee vorbereitet (danach geht's zwei Wochen nach Deutschland), heißt EdwardII (früher: EdwardII and the red hot Polkas) und ist in Manchester zu Hause. Seit ihre dritte Platte auf dem Markt ist (Titel: Wicked Men), geht es mit der achtköpfigen Formation wieder bergauf. Davor hatte sie eine längere Durststecke zu überstehen. Umbesetzungen sorgten für Frust. Aber nach einer geradezu hymnischen Plattenkritik im Zentralorgan der britischen Weltmusikszene, im 'Folk-Roots‘-Magazin („the first catalyst of the new decade... the first sighting of 21st Century music“), ist die Band ins Rampenlicht zurückgekehrt.

Was mehr und mehr Aufmerksamkeit erregt, ist ihre eigenwillige Konzeption, die sich grob auf einen simplen Nenner bringen läßt: EdwardII ist Ceilidh plus Reggae!

In dieser Gleichung steht das Wort „Ceilidh“ für die traditionelle, altenglische Country-Dance-Musik, wie sie heute noch außerhalb der großen Städte anzutreffen ist. Sie verbindet sich mit Rhythmen und Sounds, die im Handgepäck der Einwanderer aus der Karibik ins Vereinigte Königreich kamen. In ausgetüftelten Arrangements wird die Musik von EdwardII mit weiteren Zutaten verfeinert: Jazzimprovisationen vom Saxophon, Rock-Riffs, Blechblasmusik von der Posaune, Cajun- Feeling und Soulgesang.

Zwei Rasta-Filzlocken bilden das Rhythmus-Team der Band. Ihre Grooves geben der Musik den federnden zeitlupenhaften Charakter. Sie gehören, wie auch Sänger Glen La Touche, zur dritten Generation jamaikanischer Einwanderer in Großbritannien und fühlen sich als „Black British“. Ihre Kultur — der Reggae ist davon nur das musikalische Aushängeschild — ist über die Jahre zu einem festen Bestandteil des alltäglichen Lebens in den Großstädten der Insel geworden. „Dem englischen Reggae passiert heute haargenau dasselbe, was mit dem Walzer und der Polka im letzten Jahrhundert geschehen ist, die auch von außerhalb kamen“, erklärt Jon Moore, Gitarrist und Kopf des Ensembles. „Sie wurden zu echter englischer Folkmusik. Auch der Reggae ist heute ein Teil der Volksmusik von England.“ Man kann die Band mit ihren drei schwarzen und fünf weißen Musikern also als Westentaschenausgabe der britischen Gesellschaft bezeichnen. Nach Jahrzehnten des eher geduldeten als erwünschten Zusammenlebens dokumentiert sie einen Annäherungsprozeß zwischen Schwarz und Weiß innerhalb der jungen Generation. So ist die Edwardsche Stilfusion nur die naheliegende Konsequenz einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich seit längerem vollzieht. „Weltmusik spielen wir nur in dem Sinne, als diese Musik, repräsentiert durch die Einwanderer hier, heute kein Import mehr ist, sie ist in der Gesellschaft“, erklärt Saxophonist Gavin Sharp.

Die eigentliche Vorreiterrolle der Band aus Manchester besteht darin, die verschiedenen musikalischen Traditionen der unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die es heute in der „british society“ gibt, auf neue Weise zu verbinden. Das erfordert Geduld, wenn man den Verschmelzungsprozeß als organisches Zusammenwachsen begreift und nicht nur als rein musiktechnisches Problem. Aus diesem Grund werden die Stücke von den Musikern so lange gespielt und immer wieder verändert, bis ihre Bestandteile natürlich veschmelzen. Spezielles Talent ist erforderlich. „Was das technische Können anbetrifft, sind es nicht die besten Musiker, mit denen ich je gespielt habe, aber es sind zweifellos die besten Musiker, was das Zuhören anbelangt“, gibt Jon Moore zu Protokoll. „Jeder von uns könnte den anderen eine Platte vorspielen, die der eine mögen würde und der andere hassen — so breit gefächert sind unsere Interessen.“

Neujahrstanz

Ein anderer Ethnomix ist ebenfalls in den Stadtteilen der englischen Großstädte entstanden, wo die ethnischen Minderheiten leben. Pionierarbeit hat er nicht mehr nötig. Er wird Bhangra genannt und ist mittlerweile eine fest etablierte Größe. Bhangra ist der Ethno-Pop der indischen Minorität in Großbritannien. Das Wort ist der Festkultur der Sikhs entlehnt, es bezeichnet den Neujahrstanz der Männer. In England hat sich seine Bedeutung gewandelt. Unter Bhangra versteht man die Mischung traditioneller indischer Klänge mit den Rhythmen, wie man sie in jeder Diskothek findet.

Bradford — im Norden Englands zwischen Manchester und Leeds gelegen — ist wegen seines hohen Anteils indischer und pakistanischer Einwohner eine Hochburg des Bhangra-Pop. Der Schriftsteller Hanif Kureishi hat die Stadt mit ihren 400.000 Einwohnern einmal einen „Mikrokosmos“ der britischen Gesellschaft genannt. Im Sommer bildet das Bradford-Festival das kulturelle Hauptereignis der Region; in letzter Zeit bemüht man sich darum, in der Programmgestaltung auch die Interessen der indischen Einwohnerschaft zu berücksichtigen.

Dieses Jahr stand das Abschlußwochenende ganz im Zeichen der Kultur des indischen Subkontinents: Curry-Gerichte, die bunten Gewänder der Nachba-Punjab-Gruppe, ekstatische Musik. Doch scharenweise stömten die Besucher zur anderen Tribüne: Auftritt der jungen Bhangra-Band Achanak. Sie gelten in der Szene als eine der Hoffnungen für die neunziger Jahre, ihnen wird ohne weiteres der Aufstieg in die Oberliga des britischen Bhangra-Business zugetraut, wo Gruppen wie Alaap den Ton angeben. Die Newcomer-Formation, die mit ihrem Asien-Rock von sich reden macht, arbeitet stark rhythmusorientiert. Extreme Tanzbarkeit ist ihre Visitenkarte. Die eingängigen Discobeats des Drummers werden dabei durch feinere Rhythmen ausgefuttert, die von den Tablas und der Quertrommel Dholak eingeflochten werden. Den Melodien des Sängers Vijay Bhatti ist anzumerken, daß er im klassischen Ghazal- und Shabad- Gesang Bescheid weiß.

Die Tradition ist der Boden unter den Füßen, trotz aller Synthesizer und modernen Equipments. Das hindert sie allerdings nicht daran, neue Wege zu beschreiten und ihren experimentellen Neigungen nachzugehen. Fast alle Bandmitglieder sind hartgesottene Reggae-Fans und versuchen gelegentlich den Brückenschlag zur anderen schwarzen Minderheitenmusik im weißen Britannien. Was man nicht erwartet hätte: Ragas, Reggae und Rock'n'Roll gehen bei Achanak zusammen.

3 Mustaphas 3

Eine ander Art, mit dem Phänomen der Weltmusik vor der eigenen Haustür umzugehen, hat die Londoner Band 3Mustaphas3 entwickelt. Sie greifen alles auf, was ihnen an fremder Musik begegnet: traurige Lieder, die sie im kurdisch-irakischen Fish & Chip-Imbiß um die Ecke gehört haben, Melodien, die in den indischen Spielfilmen im Stadtteilkino für Melodramaitk sorgen, türkische Klänge aus der Take-Away-Bude, wo man sich ein Kebab genehmigt, sowie all jene regionalen Musiken, die sie auf ihren Tourneen durch die halbe Welt kennengelernt haben (Vertragsklausel der Band: Treffen mit lokalen Musikern). Dazu kommt ein Instrumentarium vom Akkordeon zum Synthesizer und vom Dudelsack zur Baßgitarre. Das Ergebnis ist ein eigenwilliger Kosmos, eine reine Fiktion, irgendwo auf einem imaginären Balkan angesiedelt.

Die Gruppenmitglieder üben sich als Verwandlungskünstler, streifen sich eine zweite Identität über und behaupten steif und fest: „Mustapha ist vom Balkan! Wer das nicht glaubt, ist selber schuld.“ Um die Entstehung der Band ranken sich die wildesten Gerüchte. Es heißt, sie wären von ihrem Onkel vor vielen Jahren in Kühlschränken aus Albanien herausgeschmuggelt worden. Heute beschreibt sich die Gruppe am liebsten als eine Art spirituelles Zigeunerensemble aus dem fiktiven Balkandorf Szegerely, das jede Musik spielt, nach der verlangt wird. Heute griechische Melodien für die Griechen, morgen türkische Lieder für die Türken. „Wir lernen alles“, sagt Hijaz Mustapha, der Geigen- und Bouzouki-Spieler der britischen Weltmusik- Formation. (Sein bürgerlicher Name ist der Redaktion bekannt.) Wenn sie nicht gerade für irgendein Hochzeitsfest engagiert sind, so weiß die Legende, treten sie als Hausband in der Crazy Loquat-Bar auf. Ein fiktiver Ort, einer jener Truckstops, wie es sie überall in gottverlassenen Gegenden an staubigen Landstraßen gibt, wo für alkoholisierte Fernfahrer und Schäfer gespielt wird, die im Unterhemd nach der Musik tanzen.

Wer jedoch hinter den ganzen Räuberpistolen nur die Absicht erkennt, die Öffentlichkeit an der Nase herumzuführen, dem hält Hijaz Mustapha entgegen: „Wir sind keine Blödeltruppe. Es ist kein Witz, wir sind nur sehr humorvoll. Es ist ernsthafte Musik, gespielt von ernsthaften Musikern, die die Musik lieben und verstehen, und die so spielen, wie sie spielen.“ Er verteidigt sein Pseudokonzept mit dem Argument der Unterhaltungsshow in pädagogischer Absicht: „Ganz klar — es ist eine Show! Wenn man ausgeht, will man Vergnügen. Das ist doch besser, als wenn man die Leute mit Kunst quält, indem man ihnen intellektuelles Zeugs verabreicht. Wir machen die Show, weil wir diese schwierige Musik für Menschen spielen, die sich so etwas normalerweise nicht anhören.“

Platten:

—Edward II: Wicked Men. Pure Bliss Records

—Achanak: Sig Nachure

—3 Mustaphas 3: Soup of the Century. Rykodisc