: Die DDR-Oberliga lebte für einen Tag
Im ersten Ost-Derby der Bundesliga besiegten Hansa Rostocks Kicker die Dresdner Dynamos mit 3:0 Bei Dauerregen schien für Hansa trotzdem die Sonne, während in Dresden wohl ein Gewitter aufzieht ■ Aus Rostock Hagen Boßdorf
Als die zweite Halbzeit angepfiffen wurde, blieb der Dresdner Trainerstuhl leer. Helmut Schulte spazierte noch gemütlich aus dem Kabinengang ins Ostseestadion, als ihn ein freudiger Torschrei aus 8.000 hanseatischen Kehlen begrüßte. Schultes Gesichtszüge entgleisten, er wankte zur Trainerbank, um sich erklären zu lassen: Freistoß von Spies, Kopfball von Wahl — 1:0 für Rostock (46.). Dies alles nach nur 50 Sekunden, und der Trainer hatte nichts gesehen.
„Ich fönte mir noch in der Kabine die Haare, damit ich auf den Fotos gut aussehe.“
Helmut Sch., erfolgloser Trainer
Der „gutaussehende“ Dynamo-Trainer hatte zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben, die Fehlpässe seiner sächsischen Kicker zu zählen. „Der Sieg gegen Bremen wird uns Kraft für die nächsten Spiele geben“, hoffte er noch vor einer Woche. Aber inzwischen meldete sich mit Gütschow, Jähnig und Allievi eine komplette Sturmreihe krank, und Schulte konnte seinem „hinterbliebenen“ Angreifer Uwe Rösler nur die Daumen drücken und den Verlegenheits- Stürmer Kmetsch zur Seite stellen.
„Wir spielten zu Beginn wirklich couragiert, nur ein Tor fiel nicht“, verteidigte der torhütende Kapitän der Sachsen, Réné Müller, seine balltretenden Vorderleute. Als jedoch nur sieben Minuten nach dem ersten Tor das zweite fiel, weil die Dynamo-Abseitsfalle nicht zuschnappte, Schiri Weber (Essen) vergeblich auf Reklamationen der Dresdner Verteidiger wartete und der Neu-Hanseate Michael Spies allein auf Müllers Tor zulief — da verließ auch Keeper Müller die Lust am Fußballsport.
„Das hat mich angekotzt, daß mit diesen beiden Toren der Spielverlauf total auf den Kopf gestellt wurde.“
Réné M., besiegter Torwart
Als Jens Wahl kurz vor dem Abpfiff zu einem linken Sturmlauf ansetzte, seine Flanke vom überragenden Spielmacher Michael Spieß per Kopf zurückgenickt wurde und Florian Weichert die durchnäßte Lederkugel in die Maschen drückte, war auch eine alte Rangordnung endgültig verändert: Dynamo Dresden war im DDR-Fußball immer ein bis zwei Nummern größer als Hansa Rostock. Nur viermal in den sechziger Jahren und 1991 landeten die Norddeutschen in der Meisterschaft des heutigen Beitrittsgebiets vor dem achtfachen Meister.
Die Zeiten sind vorbei, weil „Uwe Reinders die Rostocker schon im vorigen Jahr voll auf westlichen Standard getrimmt hat“, wie Trainer-Kollege Schulte erkannte. Reinders, dessen erstes Denkmal in Rostock nur eine Frage der Zeit sein kann, predigte indessen die Normalität: „Es ist ein ganz normales Punktspiel“, impfte er einerseits nach der 0:5-Schlappe in Schalke seinen Spielern ein. Andrerseits war ihm nach einem Blick auf die Tabelle klar, daß ein Sieg im 24. gemeinsamen Spieljahr mit den Dresdnern Rostock entscheidend aus problematischen Zonen entfernt.
„Es gibt Endspiele, Entscheidungsspiele und entscheidende Spiele. Das heutige war entscheidend.“
Uwe R., vergötterter Trainer
Es war ein Spiel wie in alten DDR- Zeiten: Zwei Mannschaften mit den alten Namen, ein Stadion mit der alten Bezeichnung, ein Fußball im alten Stil. Bis den Rostockern einfiel, daß sich die Zeiten geändert haben, und daß man seine wenigen Torchancen heutzutage nutzen sollte.
Entscheidenden Anteil daran hatte der 26jährige Michael Spieß. Nach dem VfB Stuttgart, dem Karlsruher SC und Borussia Mönchengladbach endete seine fußballerische Odyssee vorerst an der Ostseeküste. Hier verdrängte er zunächst den Ex- Kapitän Juri Schlünz, um dann immer selbstbewußter das Zepter zu schwingen. Kenner von Spieß wundern sich darüber, er nicht.
„In Rostock werde ich endlich einmal ernst genommen, da kann man auch ernsthaft Fußball spielen.“
Michael Sp., cooler Torschütze
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