INTERVIEW
: „Ich stelle die Institution des Dalai Lama in Frage“

■ Der Dalai Lama über seinen Entschluß, sich nach der Erlangung der Unabhängigkeit Tibets aus der Politik zurückzuziehen

taz: Eure Heiligkeit, was entgegnen Sie den jungen Tibetern im Exil, die im Kampf um die Unabhängigkeit Tibets zu den Waffen greifen wollen?

Dalai Lama: Ich kann ihre Verzweiflung verstehen. Für sie scheint es oft so, daß der gewaltlose Widerstand in der übrigen Welt nicht genügend Beachtung findet. Die Weltöffentlichkeit scheint uns nur dann Beachtung zu schenken — so sieht es ein Teil der jüngeren Generation —, wenn in Tibet „Blut fließt“. Das führt zu dem trügerischen Schluß, zu den Waffen greifen zu müssen.

Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks und des Unionsbündnisses in der Sowjetunion ist es inzwischen zur Unabhängigkeit einzelner Republiken gekommen. Sehen Sie in dieser Entwicklung auch eine Chance für eine baldige Lösung des Tibet- Problems?

Die politische Entwicklung in der UdSSR, insbesondere im Baltikum, läßt uns hoffnungsvoller in die Zukunft blicken. Zur Zeit ist die Situation in Lhasa sehr kritisch. Die Chinesen machen inzwischen auch öffentlich keinen Hehl mehr daraus, uns Tag für Tag schärfer, mit Waffengewalt zu kontrollieren. Das ist für uns sehr tragisch.

Seit mehr als 32 Jahren sind Sie alleiniges Symbol des tibetischen Widerstandes gewesen. Ist es nicht sehr gefährlich, wenn sich die Tibeter nur auf Sie stützen?

Ja, das ist gefährlich. Aber wir sind schon dabei, das zu verändern. Seit dem vergangenen Jahr werden Regierung und Administration der tibetischen Exilregierung umstrukturiert. Denn je demokratischer unsere Regierung aufgebaut ist, desto beständiger wird sie sein.

Hat die Funktion des Dalai Lama als politischer Führer noch ihre Berechtigung?

Ich habe den Entschluß gefaßt, nach der Erlangung der Unabhängigkeit Tibets an keiner Form der politischen Führung mehr teilzuhaben. Aber solange wir um unsere Freiheit kämpfen müssen, brauchen mich die Tibeter als politischen Führer. Danach werde ich mich zurückziehen. Ich gehe sogar soweit, die Institution des Dalai Lama gänzlich in Frage zu stellen. Doch ob es auch noch einen 15. Dalai Lama geben wird, hängt ausschließlich vom Willen des Volkes ab.

Glauben Sie ernsthaft, daß das einfache Volk im heute noch besetzten Tibet damit einverstanden sein wird, daß Sie als Dalai Lama abdanken und nur noch ein einfacher Mönch sein werden?

Ja, auf Dauer glaube ich das. Sehen Sie, zur Zeit ist der Dalai Lama das Symbol Tibets, der tibetischen Nation und der tibetischen Kultur. Doch auch ein Dalai Lama, habe er noch so viel spirituelle Erfahrung, muß irgendwann einmal sterben. Auch dann muß das tibetische Volk leben. Wenn es den Tibetern nichts ausmacht, wird man die Institution des Dalai Lama aufgeben. In unserer Geschichte hat es nie ein Gesetz gegeben, das uns vorschreibt, einen Dalai Lama zu haben. Diese Institution entstand auf natürliche Weise. Und genauso natürlich wird sie irgendwann wieder verschwinden.

Als ich erstmals offen über eine Abschaffung des Dalai Lama in unserem indischen Exil sprach, waren viele meiner Vertrauten zunächst enttäuscht und schockiert. Doch nachdem sich die erhitzten Gemüter wieder abgekühlt hatten, haben wir über meine Gründe diskutiert. Und schon bald hat man mich verstanden.

Ist das der einzige Grund, sich aus der politischen Rolle zu lösen?

Nein. Der Prozeß der Demokratisierung wird leichter und effektiver sein, wenn ich micht aus politischen Entscheidungen heraushalte. Außerdem habe ich die meiste Zeit meines Lebens mit dem Freiheitskampf Tibets verbracht. Meine letzten Jahre möchte ich gern religiösen und spirituellen Praktiken widmen. Interview: Peter von Stamm