KOLUMNE
: „Nur in Amerika ist so etwas möglich...“

Richter Clarence Thomas und die „Große Skandalmaschine“/ Sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz bleibt in den USA Thema  ■ Aus Washington Rolf Paasch

„Nur in Amerika ist so etwas möglich“, so intonierte Clarence Thomas an jenem strahlenden Julitag auf dem Ferienwohnsitz des Präsidenten — und meinte seinen schwindelerregenden Aufstieg aus der Armut des rassengetrennten Georgia zum Kandidaten George Bushs für das höchste Richteramt.

Was in Amerika noch so alles möglich ist, sollte Richter Thomas dann in den folgenden 104 Tagen erfahren. Schon hatten ihn die Senatoren des Justizausschusses auf Herz und Nieren geprüft und trotz zahlreicher Mängel für tauglich befunden, da wurde der Richterkandidat von seiner ehemaligen Mitarbeiterin Anita Hill der sexuellen Belästigung bezichtigt. Es folgte eine erneute Anhörung vor dem Justizausschuß und der am Bildschirm versammelten Nation: eine dramatische Mischung aus politischem Passionsspiel, Seifenoper, Gerichtssaaldrama und Hexensabbath.

Die Offenheit der amerikanischen Demokratie führte eben dazu, daß hier auch die schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit gewaschen wurde. In anderen Ländern wäre das Problem in dunklen, rauchgefüllten Hinterzimmern bereinigt worden, nicht unbedingt der demokratischere Weg.

Natürlich kann man sich darüber streiten, ob gleich jede Affäre eines Politikers oder hohen Beamten die Öffentlichkeit überhaupt etwas angeht. Doch im Falle Clarence Thomas war die Anschuldigung der sexuellen Belästigung eben keine Privatsache mehr. So sehr sich die europäische Presse — allen voran die britische — über das resultierende Spektakel belustigte oder entsetzte, so wenig beispielhaft ist da der eigene Umgang mit ähnlichen Skandalen. Nachdem der britische Oberstaatsanwalt in London nachts auf dem illegalen Straßenstrich ertappt wurde, trat er am nächsten Tag ungefragt zurück. Für seine eigentliche Untat, nämlich jährlich Tausende von Prostituierten nach dem Gesetz einzubuchten, mußte er sich in der Öffentlichkeit nicht mehr verantworten. Das Thema der Prostitution blieb tabu.

Anders in den USA. Selbst nach der Bestätigung von Richter Thomas durch den Senat wird hierzulande noch wochen- und monatelang über den Umgang mit sexueller Gewalt debattiert werden, mit welchen Ergebnissen auch immer. Nicht daß die Skandale in aller Öffentlichkeit ausgebreitet werden, sondern wie dies geschieht, ist zum Problem geworden.

Skandale hat es in der amerikanischen Politik schon immer gegeben. Von Thomas Jefferson, der es mit einer Sklavin getrieben haben soll, über die Wahlfälschung von Lyndon B. Johnson bei den Senatswahlen in Texas bis zu den Frauengeschichten der Kennedys. Meist ging es um Geld oder Sex, erst Watergate und Iran-Contra brachten den Verfassungsskandal in Mode.

Die Affäre um Thomas hat dagegen eine ganz neue Qualität: sie ist politische Produktion und Entertainment zugleich, Resultat dessen, was die Autorin Suzanne Garment als die „Große Amerikanische Skandalmaschine“ bezeichnet. Wo die republikanische Beherrschung des Weißen Hauses und die Dominanz der Demokraten im Kongreß zu einer Blockade der Politik geführt hat, wird selbige nun mit unlauteren Mitteln weitergeführt.

Die strikteren moralischen Regeln der Reagan-Ära und die daraus resultierenden ethischen Richtlinien für den Kongreß führen zu einem ständigen Strom von Anschuldigungen. Ein von Lobbyisten bezahlter Trip hier, eine feuchte Rückenmassage da. Die Büros der Abgeordneten und Senatoren — ihrer Größe nach mittlerweile mittelständische Unternehmen — spezialisieren sich immer häufiger auf die „Müllsuche“ zur Diskreditierung des politischen Gegners. Nicht die belästigte Frau, sondern Mitarbeiter von demokratischen Abgeordneten verhalfen dem jüngsten Skandal zum Ausbruch. Um ihre Anschuldigungen in die öffentliche Arena zu leiten, bedürfen sie der Medien. Der Presse wiederum ist jeder Skandal lieber als noch ein langweiliger Beitrag über die Verlängerung der Arbeitslosenversicherung, die in der vergangenen Woche an Bushs Veto scheiterte.

So scheint denn der Schaukampf zwischen Clarence Thomas und Anita Hill der Prototyp für den Skandal der 90er Jahre: systematisch erzeugt und simultan abgewickelt. Wie die Berichterstattung über den Golfkrieg durch CNN die Art der Diplomatie und Kriegsführung revolutioniert hat, so könnte die Übertragung der Thomas-Anhörung in den USA die demokratische Praxis verändern. Im Streit um den Vorwurf der sexuellen Belästigung stand das Wort von Clarence Thomas gegen das Wort von Anita Hill, standen seine Zeugen gegen ihre Zeugen. Per Meinungsumfrage hat das Publikum draußen vor dem Bildschirm entschieden: Es glaubte ihm, nicht ihr. Die Reaktion war hochemotional, wie solche Befragungen nun einmal sind, und wahrscheinlich falsch. Doch die Senatoren ernannten Clarence Thomas zum Obersten Richter. So etwas, da hatte Richter Thomas schon recht, gibt es nur in Amerika.