Bryonia-Menschen: Kühlschrank immer voll...

■ Andreas Krüger ist praktizierender Heilpraktiker und Leiter der Samuel-Hahnemann-Schule in Berlin. Renée Zucker spach mit ihm

taz: Der französische Molekularbiologe Benveniste hat in einer erneuten Untersuchung homöopathischer Arzneien bewiesen, daß lebende Zellen auf Hochpotenzen reagieren, in denen eigentlich keine chemisch nachweisbare Arznei mehr vorhanden ist. Hat Sie das als Homöopath bestätigt?

Andreas Krüger: Nein, ich halte solche Untersuchungen zwar für wichtig, um der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Beweise zu liefern, aber für Homöopathen, die seit Jahren ernsthaft arbeiten und ständig die Wirksamkeit der geistartigen Arzneien erleben, ist das keine Neuigkeit oder Überraschung.

Was sind »geistartige« Arzneien?

Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, sächsischer Arzt und Freimaurer, hat das einmal so ausgedrückt: durch die spezielle Zubereitung der homöopathischen Arzneien, wo diese verdünnt und verschüttelt werden, was Hahnemann »potenzieren, mächtig machen« nannte, wird die schlummernde geistartige Kraft des Stoffes, sei er pflanzlich, tierisch, mineralisch oder auch aus Krankheitssekreten, erweckt. Für mich bedeutet das, daß die Information einer Arznei in der Hochpotenz jenseits jeglicher Stofflichkeit liegt, daß sie dementsprechend primär das geistartige im Menschen, also sein unkörperliches Wesen anspricht und dort auch wirkt. Niedrige Potenzen hingegen, also Mittel, in denen noch mehr vom eigentlichen Stoff enthalten ist, wirken eher auf der körperlichen Ebene.

Lehnen Sie die Schulmedizin grundsätzlich ab?

Natürlich nicht. Abgesehen davon, daß ich selbst vor meinem Homöopathendasein lange in der Schulmedizin gearbeitet habe, ist mir auch klar, daß es ihrer in vielen Problemsituationen bedarf, und ich möchte auf keine Errungenschaft der Allopathie verzichten. Ich weiß aber auch, daß sie in vielen Fällen angewendet wird, wo sie eigentlich gar nicht nötig ist. Da wären vielleicht eher Arzneireize angebracht, die dem Menschen die Möglichkeit geben, seine eigenen Heilkräfte zu entwickeln, die dann die Krankheit in Gesundheit verwandeln. Das allerdings kann die Schulmedizin nicht. Sie kann entweder substituieren, wenn etwas nicht vorhanden ist, wie in der Hormontherapie oder palliativ wirken, also einen Krankheitszustand bemänteln. Wirklich heilen kann sie meiner Erfahrung nach nicht.

Was sind das für Krankheiten, wo die Allopathie Ihrer Meinung nach nicht nötig ist, wo ist Homöopathie am sinnvollsten?

Zum Beispiel in der Schwangerschaft oder beim Neugeborenen kann die Homöopathie ein ganz hervorragender Helfer sein. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern, die ja normalerweise von unterdrückenden allopathischen Verfahren verschont werden sollten, kann die Homöopathie die meisten schulmedizinischen Interventionen überflüssig machen. Wir halten mittlerweile Kurse für junge Eltern ab, in denen sie lernen, die gängigsten Krankheiten im Kindesalter selbst zu behandeln, ohne einen Arzt oder Homöopathen hinzuzuziehen. Bei dieser Behandlungsweise hat der kleine Organismus die Möglichkeit, seine Erfahrung mit einer Krankheit zu machen, ohne daß sie einfach weggesalbt oder mit Antibiotika vom Tisch gefegt wird. Hier können Krankheiten in einen harmonischen Verlauf gebracht werden, ohne sie unterdrücken zu müssen, denn eine leichte Erkältung oder Bauchweh sind ja noch keine Katastrophe.

Betrifft das auch Krankheiten wie Masern oder Scharlach?

Nein. Heilpraktikern ist es vom Gesetz her untersagt, meldepflichtige Kinderkrankheiten zu behandeln, aber ich weiß von erfahrenen homöopathischen Ärzten, daß sie auch diese Krankheiten erfolgreich homöopathisch behandeln, es sei denn, eine solche Krankheit eskaliert dermaßen, daß die Selbstregulationskräfte nicht mehr ausreichend sind. Dann müssen selbstverständlich Antibiotika gegeben werden.

Gehen Sie davon aus, daß die meisten Krankheiten psychosomatischer Natur sind?

Im Verlauf einer homöopathischen Therapie, die ja nie nur eine Verordnung von Arzneien ist, sondern auch, wie Hahnemann verlangt, eine seelsorgerische Präsenz des Therapeuten voraussetzt, erlebt man oft, daß sich hinter den körperlichen Symptomen eine psychische Störung verbirgt. Um den Menschen seiner eigenen Gesundheit ein wenig näher zu bringen, muß man selbstverständlich auch mit diesen Störungen arbeiten. Selbst Schulmediziner sind ja heute der Auffassung, daß die meisten Krankheitsursachen im seelischen Ungleichgewicht des Patienten zu finden sind. Ich würde sogar so weit gehen, daß Krankheit nicht eine zufällige Störung ist, sondern einen wegweisenden Charakter für den Menschen bedeutet, eine Art erhobener Zeigefinger. Und wenn dieser Zeigefinger von der Allopathie abgeschnitten wird, sucht sich die Lebenskraft ein tieferliegendes Organ, um den Menschen auf seinen Konflikt aufmerksam zu machen. Die Homöopathie kann hier dem Menschen einmal helfen, sein somatisches Symptom zu verlieren, es überflüssig zu machen, und dann auch mental dahinter zu kommen, warum er diese Krankheit hat, was sie ihm sagen will, was er möglicherweise in seinem Leben verändern muß, um dieses Symptom nicht mehr zu benötigen.

Ich würde es vielleicht so ausdrücken: Es gibt verschiedene Ebenen bei Krankheiten. Zunächst die akute Erkrankung: ein Mensch stürzt und hat danach Schmerzen. Das muß nicht unbedingt etwas mit einem seelischen Konflikt zu tun haben. Dann die chronische Erkrankungsebene, die ganz speziell diesen Menschen betrifft, sagen wir, jemand hat jahrelang Rheuma. Die dritte Ebene hat nicht mehr diese individuellen Ursachen, sondern kann vererbt sein, oder etwas mit dem Kollektiv zu tun haben, in dem er sich bewegt. Menschen, die in Berufsgruppen sind, die sich mit ganz bestimmten Themen auseinandersetzen, nehmen wir als Beispiel Juristen, die sich mit dem Prinzip des Rechts beschäftigen — diese Menschen haben sehr oft Krankheiten, die mit dem Mittel Lycopodium, dem Bärlapp in Verbindung gebracht werden. Wir erleben zum Beispiel bei Arzneimittelprüfungen, wenn gesunde Menschen dieses Mittel nehmen, daß sie ganz stark auf Themen wie Recht und Gerechtigkeit reagieren, daß sich das steigert bis zu äußerst rechthaberischen Reaktionen.

Könnte man bei diesen kollektiven Erkrankungen auch für ganze Bevölkerungsgruppen sprechen?

Man muß sich selbstverständlich vor allzu simpler Verallgemeinerung hüten, aber mir ist in meiner Praxis aufgefallen, daß überdurchschnittlich viele Patienten aus der ehemaligen DDR Krankheiten entwickelt haben, die mit Lycopodium geheilt werden konnten. Das läßt darauf schließen, daß bestimmte Systeme, vor allem, wenn sie so starr und einengend sind, wie es in der DDR der Fall war, eine Atmosphäre schaffen, auf die der Mensch mit arzneimitteltypischer Erkrankung reagiert. Da können dann die Arzneien mithelfen, sich aus kollektiven Verstrickungen zu lösen und zu der individuellen Kraft und Verantwortung zu kommen. Für die alte Bundesrepublik ist das nicht ganz so einfach, weil sich hier zu viele individuelle Eigenschaften entwickeln konnten, aber einer meiner Lehrer stellte einmal Bryonia, die Zaunrübe, als Beispiel für das Verhalten der Westdeutschen im vereinigten Deutschland vor. Bryonia-Menschen achten sehr darauf, Gefriertruhen und Schränke immer voll zu haben und daß es vor allen Dingen ihnen und ihrem kleinen Kollektiv gutgeht und daß man nichts abgeben muß, eine Kleingärtnermentalität, die nichts mehr als die Veränderung fürchtet.

Wie kommt es zu derartigen Charakterisierungen von Pflanzen oder anderen Arzneimitteln?

Ein Homöopath hat ja verschiedene Methoden, sich Kenntnisse über das Wesen eines Stoffes zu verschaffen. Die klassische Methode ist die Arzneimittelprüfung. Hier nimmt ein gesunder und empfindsamer Mensch die Arznei und protokolliert bei sich die physischen und psychischen Veränderungen, die dieser Stoff bewirkt. Diese Protokolle werden mit denen von anderen Prüfern verglichen. Bei Bryonia wird man dann zum Beispiel ganz schnell merken, daß Themen wie Besitz, Geiz und Unbeweglichkeit eine größere Rolle im Leben spielen als es normalerweise der Fall ist. Die zweite Methode ist die Betrachtung des Stoffes. Da sieht man bei Bryonia die immens viel Wasser speichernde, dicke, unterirdische Wurzel und die relativ dünnen oberirdischen Triebe, die sich lassoartig um alles wickeln, was festzuhalten ist. Wenn wir dagegen Lycopodium anschauen, denken wir daran, daß dieser Bärlapp vor Tausenden von Jahren noch ein riesiger Baum war und heutzutage nur noch ein paar Zentimeter aufzuweisen hat. So könnte man für lycopodiumkranke Menschen sagen, daß sie vielleicht innerlich eine kollektive Erinnerung an Größe in sich spüren, aber real nicht über den Dackel hinausragen — scherzhaft gesprochen, ein Mittel für verarmten Adel. Diese Methode ist keine Erfindung der Homöopathie. Schon Paracelsus schuf die Signaturenlehre, was auch in der anthroposophischen Medizin sehr gepflegt wird. Die dritte Erkenntnisquelle ist einfach die Erfahrung von hundertjähriger heilerischer Tätigkeit der Pflanzen. Und die letzte, mit Vorsicht zu genießende Information ist die der visionären Schau. Das wissen wir von Paracelsus oder Hildegard von Bingen, wie sie viele ihrer Erkenntnisse durch Visionen erlangt haben. Heute haben die meisten Therapeuten diese Fähigkeit nicht mehr, aber wir können zumindest wichtige Hinweise aus denen der anerkannten alten Heilenden erlangen.

Gibt es den gesunden Menschen in der Homöopathie?

Nein. Der absolut gesunde Mensch wäre jenseits der Erleuchtung. Aber es gibt einen Zustand von relativer Gesundheit. Jemand, der sich in Harmonie mit seinem Körper, seiner Umwelt und seinen Gefühlen befindet, ist in einem solchen Zustand.

In Berlin gibt es mittlerweile einen Lehrstuhl für Naturheilkunde. Begrüßen Sie diese Entwicklung?

Generell ja, obwohl man Naturheilkunde nicht grundsätzlich mit Homöopathie gleichsetzen darf. Mein Problem mit universitärer Homöopathieausbildung ist ein anderes. Der Leitsatz der Homöopathie lautet: »Ähnliches soll mit ähnlichem behandelt werden«, und die Erfahrung mit meinen Heilpraktikerkollegen zeigt mir oft, daß sie doch durch eine Summe von auch sehr schmerzlichen Erfahrungen in ihrem Leben ihren Patienten persönlich sehr ähnlich geworden sind. Und genau auf diese Eigenerfahrung und Selbsterkenntnis legen wir an unseren Schulen sehr viel Wert. Die meisten unserer Schüler sind über 30 Jahre alt und haben schon ein Berufsleben hinter sich. Ich bezweifle, ob man diese Erfahrungen in einem Hörsaal unter 300 Studenten machen kann. Eine weitere Angst bei universitärer Ausbildung wäre, daß die Homöopathie gelehrt wird wie eine Ingenieurswissenschaft und nicht wie eine lebendige Kunst, die ihre Kraft aus dem Mitleiden des Therapeuten schöpft. Und dies scheint mir auch das Anliegen des Freimaurers Hahnemann gewesen zu sein: keine Medizinalingenieure zu kreieren, die nun mittlerweile statt Antibiotika homöopathische Mittel verschreiben, sondern er hatte einen Therapeuten im Auge, der ein gutes fachmännisches Handwerkszeug besitzt und sich gleichzeitig mit Krankheit auf einer geistigen Dimension auseinandersetzt und die Selbstbetrachtung und Selbstdurchdringung praktiziert. Im besten Sinne ein paracelsischer Arzt.

Haben Sie auch Ärzte unter Ihren Patienten?

Ja.