Was Walter Momper heute verschweigt

■ Ein Mitbegründer der SDP in der DDR rekonstruiert die abenteuerliche Geschichte seiner Partei während der Wende

Berlin. Walter Momper wußte sofort Bescheid. Die ersten Meldungen über eine Initiative für die Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR waren gerade von den Nachrichtenagenturen verbreitet worden, als der SPD-Landesvorsitzende und Regierende Bürgermeister von West-Berlin schon klar Stellung bezog. »Mit Parteigründungen durch kleine Gruppen«, so Momper am 30. August 1989 in zwei Zeitungsinterviews, »kann in der DDR jetzt gar nichts bewegt werden.« Denn, so die bündige Erkenntnis des Obersozis, »die SED hat in der DDR tatsächlich die Macht, und sie wird sie in absehbarer Zeit behalten«.

Ganz anders liest sich dies in Mompers Buch Grenzfall. Dieser Tage ist es erschienen, heute abend wird es auch in Berlin feierlich präsentiert. Im Juni 1989 sei ihm »klar«gewesen, schreibt Momper da, daß es »undenkbar« gewesen wäre, »weiter mit der SED-Spitze über Erleichterungen zu verhandeln, wenn die Repressalien gegen Oppositionelle zunahmen«. Zur SDP wiederum, wie die sozialdemokratische Partei der DDR sich anfangs noch abkürzte, habe die Westberliner SPD »ganz schnell Kontakt« gefunden, erinnert sich der Berliner SPD-Chef in seinem »Geschichtsbuch«.

Damit solche klammheimlichen Geschichtsfälschungen künftig etwas schwieriger werden, arbeitet ein Parteifreund von Momper an einer Chronologie der tatsächlichen Ereignisse: Martin Gutzeit hatte zusammen mit Markus Meckel, 1990 für wenige Monate Außenminister der frischgewendeten DDR, im Juli 1989 die Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR initiiert, die dann am 7. Oktober als erste ostdeutsche Parteineugründung auch stattfand. Heute, ohne Ämter und Würden in der gesamtdeutschen SPD, sitzt Gutzeit an seinem Schreibtisch und betreibt »Spurensicherung«. Nein, ein »Geschichtsbuch« will er nicht verfassen. Eher schon ein Buch mit vielen kleinen Geschichten, die Schlaglichter werfen auf diesen Prozeß des Zusammenbruchs der DDR im Sommer und Herbst 1989, der viele im Westen so sehr überraschte. Zum Beispiel die Anekdote von der ersten Hilfsaktion westdeutscher Sozialdemokraten für die unbekannten Genossen im Osten. Der Bundestagsabgeordnete Norbert Gansel und die drei Westberliner Parteilinken Ehrhart Körting, Niko Sander und Petra Merkel waren es, die am 24. Oktober 1989 als erste nach Ost-Berlin fuhren und Kontakt aufnahmen.

Gansel brachte den Sozis das »Du« bei

Mit Gutzeit, Ibrahim Böhme und Angelika Barbe trafen sie sich in der Wohnung des Malers und Christa- Wolf-Schwiegersohns Martin Hoffmann. Das geschah, bestätigt Körting, ohne Auftrag und Deckung der Partei. Im Gegenteil: Der Rechtsanwalt war erst Ende August von seiner Partei heftig gescholten worden, weil er der SED öffentlich ein baldiges Ende prophezeit hatte und seine eigene Partei aufgerufen hatte, die Menschenrechte in der DDR zum Thema zu machen.

Wenig Glück hatte Körting anfangs auch mit seinen privaten Solidaritätsaktionen. Von seinem Privatkonto hob er 9.000 Mark ab, um sie den Ostgenossen zukommen zu lassen. Diese Gelder, gedacht für den Kauf eines Computers, landeten in der Wohnung von Bärbel Bohley und auf den Konten des Neuen Forums. SDP-Mann Stefan Hilsberg hatte es nämlich versäumt, das Geld vereinbarungsgemäß abzuholen. Erst die zweite Sendung von 9.000 Mark kam bei den Adressaten an. »Durch Spenden« habe er das Geld wieder hereinbekommen, versichert Körting heute.

Mit »Sie« habe er Gansel bei jenem ersten Treffen angesprochen, erinnert sich Gutzeit. Prompt habe der Bonner Sozi ihn belehrt, daß die korrekte Anrede »Du« und »Genosse« sei. Mit diesen frisch erworbenen Kenntnissen geriet Ibrahim Böhme freilich wenige Tage später an den Falschen: »Leicht pikiert« habe Walter Momper reagiert, als ihn Ibrahim beim ersten Zusammentreffen am 29. Oktober als »Genosse« tituliert habe, erinnern sich Teilnehmer des Gesprächs.

Momper fiel die Anrede »Genosse« schwer

Dabei hatten Gutzeit und Meckel nicht leichtfertig den Anschluß an die Sozialdemokratie gesucht. »Freiheit, soziale Grundrechte, Ökologie«, diese Grundwerte habe er geteilt, sagt Gutzeit. Die Bereitschaft, ernsthaft die »Machtfrage« zu stellen, habe sie zur Gründung einer regelrechten Partei motiviert. Für die DDR-Oppositionsbewegung sei das im Sommer 1989 etwas völlig Neues gewesen, ein Plan, der »mit den bestehenden Gruppen« nicht zu verwirklichen gewesen sei.

Gerade die basisdemokratischen Prinzipien in den Friedens- und Menschrenrechtsgruppen hätten es der Staatssicherheit immer wieder erlaubt, die Opposition »zu lähmen, zu paralysieren«. Einmal getroffene Entscheidungen hätten eingeschleuste Agenten jederzeit wieder anzweifeln können, das basisdemokratische Grundprinzip »Vertrauen« wiederum habe es geradezu verboten, sich auf die Suche nach Stasi-Zuträgern zu begeben und auf diese Weise »Mißtrauen« zu säen. Wie trickreich andererseits die SDP-Gründer die »Firma« austricksten, will Gutzeit anderereits auch rekonstruieren. Nicht nur das geglückte Abhängen der Verfolger auf dem Weg zum Pfarrhaus in Schwante, in dem die Gründungsversammlung stattfand, sondern auch die Vorsorge für den Fall, daß die Staatssicherheit das Treffen wirklich verhindert hätte. Um sich dafür zu rüsten, hatten die selbsternannten Sozialdemokraten eine zweite Gründungsurkunde verfaßt und bei Freunden hinterlegt. Hätte das Treffen nicht stattgefunden, wäre dieses Papier trotzdem veröffentlicht worden, freut sich Gutzeit.

Die Firma wurde »ausgetrickst«

Die westdeutsche SPD müßte ihren ostdeutschen Genossen für deren konspirative Begabung dankbar sein, meint auch einer, der in Schwante mit unterzeichnete: Thomas Krüger, heute Jugendsenator in Berlin, glaubt immer noch, daß seine Westgenossen sich irgendwann mit den Resten der SED zusammengetan hätten, wenn es nicht zur Gründung der SDP gekommen wäre.

Genossen als »Politik-Berater«

Damals, im Herbst 1989, waren es freilich genau diese SED-Erben, die sich der SDP andienten. In Gutzeits Unterlagen ist für das Datum des 29. November eine Zusammenkunft in der Humboldt-Universität vermerkt, zu der sich neben Hilsberg, Gutzeit und Frank Bogisch für die SDP auch einige SED-Mitglieder einfanden. Die »Sozialismus-Theoretiker« um die Brüder Michael und Andre Brie boten sich den Sozialdemokraten als »Politikberater« an. Zu einer Kooperation kam es dann trotzdem nicht. »So frischfröhlich« habe man die Einheitssozialisten dann doch nicht aus der Verantwortung für ihre Vergangenheit entlassen wollen, sagt Gutzeit. Zumindest Andre Brie konnte diese Abfuhr offensichtlich verkraften. Immerhin ist er heute stellvertretender Bundesvorsitzender der PDS und auf dem besten Weg, auch den Parteivorsitz des Berliner Landesverbandes der Partei zu übernehmen.

Auch eine Liaison mit einer ganz anderen Person, die heute erneut im Rampenlicht steht, scheiterte in diesen Monaten — erst mal. Gemeint ist Manfred Stolpe. Auf Initiative von Thomas Krüger schlug der Berliner Bezirksverband der SDP am 6. Dezember 1989 den Kirchenjuristen und heutigen Brandenburger Ministerpräsidenten als Spitzenkandidaten für die Volkskammerwahl vor. »Wir müssen selber das Tempo im Wahlkampf bestimmen«, begründete der im Umgang mit Medien schon früh begnadete Thomas Krüger damals seinen Vorschlag. Für den »Personalvorschlag Manfred Stolpe« spreche nicht nur dessen »hoher Bekanntheitsgrad«, sondern auch seine »Erfahrung und Fähigkeiten im Krisenmanagement«, seine »Erfahrungen auf internationalem Parkett«, sein »mediengerechtes Auftreten« und die Tatsache, daß Stolpe eine »integre Person« sei.

Genau daran hatten Krügers Genossen ihre Zweifel, und so hielt die Partei an ihrem Unglückskandidaten Ibrahim Böhme fest. Gutzeit findet das heute noch richtig. Stolpe sei damals für die SDP durch seine Nähe zum SED-Regime diskreditiert gewesen. Schließlich habe er noch am 9. Oktober 1989 zusammen mit Bischof Gottfried Forck und Pfarrer Rainer Eppelmann seine Unterschrift unter einen Aufruf »kirchlicher Mitarbeiter« gesetzt, in der zwar »Meinungsfreiheit« verlangt wurde, die DDR-Bürger gleichzeitig jedoch »dringend« gebeten wurden, »jetzt von nicht genehmigten Demonstrationen auf den Straßen abzusehen«.

Geschäftsführer wurde einfacher Genosse

Solch gewundene Sätze kann sich Gutzeit heutzutage sparen. Während Stolpe, Krüger, Brie und Momper noch und schon wieder hohe Ämter versehen, ist Gutzeit nur noch einfaches Mitglied. In der Volkskammer war der studierte Theologe parlamentarischer Geschäftsführer seiner Fraktion. Aus dieser Zeit hat er etwas geerbt, das ihm den Überblick erleichtert: Es ist seine Wohnung im 20. Stockwerk eines Hochhauses auf der Fischerinsel in Berlin-Mitte, die er als Parlamentsmitglied erhielt und von der er heute noch die Aussicht auf ganz Ost-Berlin genießen kann. Seine kriminalistischen Übungen auf den Spuren der von ihm gegründeten Partei werden vielleicht auch dadurch gefördert, daß sein Appartement früher einen auf dem Gebiet der Spurensicherung hochbegabten Mieter hatte: Markus Wolf, vormaliger Spionage-Chef der DDR. Hans-Martin Tillack