Wildgewordene Kleinbürger

Die Freien Kammerspiele Magdeburg — eine Premiere, eine Uraufführung und ein Unternehmen mit Mut zum Risiko  ■ Von Sabine Seifert

Das Foyer des klassizistischen Theaterbaus gleicht einem Jugendklub. Links der Tresen für die Getränke und Snacks, große Tische mit Stühlen an den Wänden sowie einige Sessel, in und auf denen überwiegend Jugendliche hocken, die die leidvolle Schule gerade hinter und den kläglichen Rest noch vor sich haben. Nur wenige ältere Paare haben sich auf den Weg hierher gemacht. Rechts vom Tresen befindet sich eine große Spielzeugeisenbahn, in deren Mitte eine reglos blasse Minna (derer von Barnhelm) mit dem Diener Justus thront. Ein lebendes Environment, das plötzlich zu sprechen anfängt. Variationen auf das Modell: Deutschland, Einstimmung auf das Deutschlandspektakel, mit dem die Freien Kammerspiele Magdeburg in ihre zweite Spielzeit starteten: Texte, Briefe, Balladen, Dias, Filmausschnitte und drei Theaterstücke gab es teilweise parallel zu sehen und zu hören.

Die Freien Kammerspiele Magdeburg waren nicht immer so frei, aber schon immer ein „Theater für junge Zuschauer“, das bis 1988 als Teil der städtischen Bühnen vor sich hin darbte. Einer nach dem anderen ging, das verbliebene Ensemble formierte sich gegen den damaligen Generalintendanten Karl Schneider, ein braves SED-Mitglied: Im Zuge der allgemeinen Auflösungstendenzen der DDR gelang es, die Kammerspiele als eigenständiges Theater aus dem Kulturfilz herauszulösen. „Eigentlich ein Husarenstück. Niemanden in der alten und dann in der neuen Stadtverordnetenversammlung, die diesem Beschluß zustimmte, war damals klar, auf was er sich einließ: ein neues Theater“, sagt der heutige Intendant der Kammerspiele, Wolf Bunge. Jetzt hat das Land Sachsen- Anhalt — mit Magdeburg als Landeshauptstadt — nicht mehr sechzehn, sondern siebzehn Theater. Und alle kosten Geld.

Bequem sind die Kammerspiele nicht, die längst kein reines Jugendtheater mehr sind. Das Theater als kulturelles Zentrum — mit eigenem Tanzensemble, Filmabenden, Jazzkonzerten und Kindertheater, das sich nicht nur an Kinder richtet, sondern teilweise auch mit Kindern und Jugendlichen erarbeitet wird — schwebt dem jungen 20köpfigen Ensemble vor. Drei Regisseure arbeiten fest am Haus, das insgesamt rund 85 Mitarbeiter zählt. Ein mittleres Haus in einer mittelgroßen Stadt, die keine Schönheit ist, aber eine Prachtstraße im Stil der Ostberliner Karl- Marx-Allee hat, einer durch den Krieg überwiegend zerstörten Industriestadt, die in der DDR zur tristen Proletenstadt verkam. Das große Haus, das 1990 abgebrannte Maxim- Gorki-Theater, mittlerweile mit einem neuen Intendanten, setzt andere Akzente: Linie 1 endet hier, und auch sonst stehen dort bloß Vergnügungsschlitten im Depot.

Zurück in die Kammerspiele, hinein in die gute Stube des Dorfrichters Adam, die sich bei näherer Betrachtung als reinste Bretterbude herausstellt. Der Amtsschimmel sitzt in allen Ecken und auf allen Wänden; vergilbtes Aktenmaterial liegt lose und stapelweise auf dem Boden herum, in einer Ecke häufen sich leere Aktenordner. Diese Justiz ist auf den ersten Blick marode, da muß sich nicht erst der Dorfrichter nackt und mit verbundenen Augen aus dem Bett quälen: blinde Justitia.

Smart und jungdynamisch kommt der Gerichtsrat Walter aus der Stadt; ein Vertreter der West-Justiz, der sich ein wenig angewidert und doch auch fasziniert den Saustall anschaut. Tiefste Provinz, tiefste DDR-Provinz, irgendwann tief in den 60ern. So werden sie liebevoll vorgeführt, jeder ein Prachtexemplar der Gattung wildgewordener Kleinbürger: Eve im selbstgemachten hellblauen Strickkleid, darüber Kapuzenanorak mit Pelzbesatz, die blonden Haare hochtoupiert, die Wimpern klimpernd falsch; ihre Mutter Marte Rull mit Hütchen, Brille und einer Handtasche mit Henkel, mit der sie auch ordentlich zuhauen kann; Bauer Tümpel mit dem Tirolerhut und als Krönung der Schöpfung Ruprecht, der Verlobte Eves: Im Anorak, garantiert 100 Prozent Polyamid, mit breiten Koteletten und roten Flecken im Gesicht; so als wolle er seine Berufung aberwitzig übertölpeln, steht ihm ein kleines dünnes Zöpfchen hoch vom Kopfe ab. Dorfrichter Adam hält sich allerdings seine Landsleute vom Leib und weist das Volk in seine Schranken: Hinter einer schulterhohen Trennwand müssen sie antreten und ihre Geschichte vortragen. Während Adam und Walter am Tisch ordentlich Wein und Limburger Käse spachteln, packen die anderen ihre Pausenbrote und die Thermoskanne auf der Mauer aus. Ein traurig-schönes Bild vom Volk der DDR, das mit der einen Mauer längst nicht alle Mauern überwunden hat.

Regisseur Axel Richter greift am Schluß seiner temporeich durchgespielten Inszenierung — wie auch Langhoff in Berlin — auf eine ursprünglich von Kleist geschriebene und in den Buchausgaben nicht veröffentlichte Szene im Zerbrochenen Krug zurück: Unser smarter Gerichtsrat Walter erweist sich nicht nur als ein äußerst nachlässiger Revisor, der die Machenschaften seines Amtskollegen geflissentlich unter den Teppich kehrt, sondern er verleugnet auch die kriegerischen Absichten seiner Regierung gegenüber Eve und ihrem Verlobten: Mit einem goldenen Taler erwirbt er ihr Vertrauen. Wie blöd starrt Eve das Goldstück an — die neue Währung hat sie alle verblendet, Eve und die anderen im Saal.

Keine Frage, die Realität im Magdeburger Theater ist härter als in jedem westlichen Stadttheater der gleichen Größe. Da muß auch mit härteren Bandagen gearbeitet werden wie in Axel Richters Krug-Inszenierung, die derb und prall ist, an manchen Stellen ihren gerade erspielten Erfolg verspielt, um sich dann doch wieder zu fangen. In Magdeburg herrschen Aufbruchstimmung, Streitgeist, Durchsetzungswille, der Charme des Neubeginns im heruntergekommenen Etablissement.

Ins Programm gehören darum auch mehrere Uraufführungen pro Jahr; bereits 1985 hat Wolf Bunge in Gera schon einmal ein Stück des in der DDR und anderswo selten gespielten Autors Lothar Trolle uraufgeführt. Ein Vormittag in der Freiheit, das Bunge jetzt in Magdeburg erstmals auf die Bühne bringt, ist ein Einpersonenstück, das viele Personen hat, ein Monologstück, das dialogisch gebaut ist. Lehmann — „vorn mit l und hinten mit n wie Lenin“ — spricht nämlich mit „meinem Kumpel bzw. das andere Ich von mir“ sprich: mit sich selbst. Lehmann ist arbeitslos. Menschen, die mit sich selber reden, sind komisch. So auch Lehmann, der in seiner Wohnzelle mit Bücherregal (viel blauer Marx und etwas roter Lenin), Stehlampe und Sofa im Bademantel auf und ab geht, manchmal sogar bis auf den Hausflur dringt. Ein trauriger Clown, ein abgehalfterter Held der Arbeit, der absurde Reden schwingt und die Zeit zu bezwingen sucht („sicher ist für ihn nur, so übersteht er bestenfalls die nächsten zehn Minuten!“). Michael Günther spielt Lehmann so überzeugend und komisch, daß man nicht einen Augenblick meint, einen Sozialfall vor sich zu haben. Demonstriert mit einem Bierglas in der Hand, wie er zu einer Schallplatte Gymnastik machen könnte: Die Platte ist zu schnell und er zu langsam, also schnell das Tempo der Platte verlangsamt, woraufhin sich seine Beine, immer noch das Bierglas in der Hand, noch mühsamer hochschleppen; also doch das doppelte Tempo und auch das haut nicht hin, auch wenn das Bier noch immer nicht übergeschwappt ist, aber so rettet sich Lehmann mit seinem Kumpel über die Zeit. Ein Vormittag in der Freiheit — nur: wessen Freiheit? Am Ende spielt Lehmann mit sich selbst Katz und Maus.

Heinrich von Kleist. Der zerbrochene Krug . Regie: Axel Richter. Bühne: Klaus Noack. Mit Andreas Herrmann, Thomas Dehler, Franziska Ritter, Stephan Dierichs. Freie Kammerspiele Magdeburg. Nächste Aufführung: 29.10.

Lothar Trolle: Ein Vormittag in der Freiheit . Regie: Wolf Bunge. Bühne: Gabriele Brendel. Mit Michael Günther. Freie Kammerspiele Magdeburg. Nächste Aufführung: 23.10.