Linke können kein Gebet sprechen

■ Auf einer Wahlparty bei Istanbuls Linksintellektuellen verzogen sich die Gesichter

Das kalte Büffet ist vorzüglich, Wein vom Allerfeinsten. Es ist Abend, die Wahllokale haben geschlossen. Wir hocken gebannt vor dem Fernseher und warten auf die ersten Hochrechnungen. Wir, das sind zwanzig türkische Frauen und Männer, Durchschittsalter 45 — alle dem Marxismus irgendwie verbunden. „Ist überhaupt ein Kurde unter uns?“ fragt unvermittelt einer. Wir sehen durch die Reihen und stellen fest, daß es keinen Kurden gibt.

Der Hochschulbereich ist überrepräsentiert, eine Reihe Professoren und Dozenten sind unter uns. Einige haben die Wahlen boykottiert, einige votierten mit viel Schmerz und Überwindung für die „Sozialdemokratische Volkspartei“ (SHP), einige stimmten für die kleine, linksradikale „Sozialistische Partei“, die ohnehin auf aussichtslosem Posten stand.

„Soll ich dir ein Kopftuch schenken?“

Die ersten Hochrechnungen: Riesenverluste der Sozialdemokraten in den Großstädten, der Aufschwung der Fundamentalisten, der Umstand, daß die marode Mutterlandspartei doch zweitstärkste Partei wird. Kurzum: ein Rechtsruck. Ein Wahlergebnis gegen all das, was uns lieb und teuer ist. Von Stunde zu Stunde verziehen sich die Gesichter: „Auch wenn man alles erklären kann. Welch niederträchtiges Volk.“ Der Dialog zweier Freundinnen: „Soll ich dir ein Kopftuch schenken?“ „Nein danke, ich wandere aus.“ Das Lachen bleibt in der Kehle stecken. „Kann überhaupt jemand von uns ein Gebet sprechen?“ fragt einer. Eine Frau in unserer Runde hat so etwas vor Jahrzehnten mal gelernt. Sie spricht ein Gebet. „Prägt es euch gut ein, sonst gibt es Prügel.“ „Ich glaube, ich wandere nach Israel aus“, spottet unser jüdischer Freund.

Nur ab und zu ein Lächeln in den düsteren Gesichtern — immer dann, wenn das Fernsehen die Ergebnisse aus den kurdischen Regionen zeigt. Ein gewaltiger Wahlerfolg für die kurdische Opposition, die auf den Listen der „Sozialdemokratischen Volkspartei“ kandidierte. Jubel. „Biji, biji“, skandieren wir, was auf kurdisch „es lebe“ bedeutet — der einzige Brocken Kurdisch, den wir können. „Was für eine Gesellschaft. Bleiben denn nur noch die Kurden als gesellschaftskritische Opposition übrig?“

Die Jubelstimmung weicht schnell wieder mißmutigem Gram: In Erzurum hat die Wohlfahrtspartei 37 Prozent der Stimmen erhalten. Nicht einmal der Alkohol vermag die Stimmung zu heben. Schweißgebadet verlasse ich gegen zwei Uhr morgens die Runde.