Überfällige Erinnerung

■ Das Kreuzberg-Museum zeigt Zeugnisse jüdischen Lebens im Bezirk

Fontanepromenade — schon der Straßenname ist ein Klangjuwel, und die dazugehörige Allee am Südstern, eine der schönsten Wohnstraßen in Kreuzberg, macht ihrem Namen alle Ehre. Das war nicht immer so. In den dreißiger Jahren war sie unter der jüdischen Bevölkerung Groß-Berlins als »Schikanepromenade« verrufen.

Nicht ohne Grund, wie ein Brief der örtlichen Ortsgruppe der Nationalsozialistischen Partei »Urban« vom 22. Juli 1940 belegt, der sich in der Straßenakte des Kreuzberger Gartenbauamtes erhalten hat. Darin weist die Ortsgruppe »das Bezirksamt Kreuzberg der Reichshauptstadt Berlin« auf folgenden wichtigen Sachverhalt hin:

Innerhalb des Hohheitsgebiets (sic!) der Ortsgruppe Urban befindet sich die Arbeitsvermittlung der Juden in der Fontanepromenade. Die dort für die ruhenden Volksgenossen vorhandenen Bänke sind in den Vormittagsstunden von den Juden vollauf besetzt, so daß für die Volksgenossen keine Möglichkeit zur Erholung vorhanden ist. Die Ortsgruppe Urban schlägt vor, eine der Bänke gelb anzustreichen und mit dem Vermerk ‘Nur für Juden‚ zu versehen. Diese wiederholt vorgebrachte Bitte wird aufgrund fortgesetzter Beschwerden hiermit wiederholt. Heil Hitler! gez. Ortsgruppenleiter.

Solcherart sind die Entdeckungen, die man in der Ausstellung Juden in Kreuzberg in der Adalbertstraße 95 noch bis Jahresende machen kann. Am bewegendsten sind die zahlreichen ausgestellten Familienfotos von freundlichen Nachbarn, die erst nach 1933 als Juden abgestempelt und ausgegrenzt wurden, sowie die Briefe aus jenen Jahren: Da denunziert eine brave deutsche Frau ihre nichtarischen Vermieter; da erklärt Ende 1933 der jüdische Ullstein-Verlag dem Herrn Reichskanzler Hitler höchstpersönlich seine Loyalität; da zieht das Finanzamt das Vermögen jüdischer Geschäftsleute ein; da berichtet der jüdische Bezirksbürgermeister von Kreuzberg, Karl Herz, wie er von Sturmtrupps aus dem Amt gejagt wurde.

Es folgen die verzweifelt optimistischen Abschiedsbriefe vor der Deportation, die Transportlisten, die beschämenden Entschädigungsbescheide aus den fünfziger Jahren. Und endlich Briefe und Gesprächsprotokolle der letzten jüdischen Überlebenden, die gebeten wurden, sich nach so vielen Jahren der Verdrängung und des Vergessens zu erinnern.

Die Ausstellung in den Räumen des Kreuzberg-Museums belegt eindrucksvoll, daß der vom Senat auf unbestimmte Zeit vertagte Bau eines Jüdischen Museums in der Lindenstraße überfällig ist und daß der vorgesehene Standort ein Glücksfall wäre. Kreuzberg ist nicht nur der Bezirk, in dem die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums bürokratisch organisiert wurde, er war trotz seines geringen jüdischen Bevölkerungsanteils ein Zentrum jüdischen Lebens.

In der und um die Lindenstraße hatten jüdische Zeitungs- und Buchverlage ihren Sitz, im Haus Nr. 13 befand sich die Reichszentrale des mitgliederstarken »Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, auf dem Grundstück Nr. 48/50 standen die liberale Synagoge und das Gemeindezentrum.

Jüdische Geschäftsleute machten die Oranienstraße zum »Kurfürstendamm des Ostens«. Die Skalitzer Straße säumten vor dem Weltkrieg die Läden ostjüdischer Gebrauchtkleiderhändler. Das Theater des Jüdischen Kulturbundes in der Kommandantenstraße war nach 1933 für viele Künstler jüdischer Abstammung der einzige Spielort in Berlin, an dem sie noch auftreten durften, die einzige Stätte, an der sonst aus den Spielplänen gestrichene Werke aufgeführt wurden.

Das alles und vieles mehr haben die Ausstellungsmacher von der Berliner Geschichtswerkstatt in dreijähriger Arbeit mit wissenschaftlicher Gründlichkeit recherchiert. Herausgekommen ist neben der manchmal etwas unübersichtlichen Ausstellung ein dicker Katalog, ein wunderschöner Schmöker, der in der Ausstellung für einen Spottpreis (25 Mark) zu erwerben ist. Michael Bienert

Die Ausstellung im Haus des Kreuzberg-Museums (Adalbertstr. 95) ist noch bis zum 29. Dezember 1991 zu sehen; täglich von 10 bis 18 Uhr, außer montags.

Samstags und sonntags um 15 Uhr finden Führungen durch die Ausstellung statt. Für die begleitenden Stadtführungen zur jüdischen Geschichte in Kreuzberg muß man sich anmelden (Tel.: 2588-6233). Treffpunkte am 3. 11., 17. 11., 1. 12. und 15. 12. (alles Sonntage) um 14 Uhr vor »Bilka« an der Kottbusser Brücke. Der Eintritt und die Teilnahme an allen Veranstaltungen sind frei.