Ein Versehen der Stadtplaner

■ Im spitzen Winkiel des Platz-Dreiecks thront auf marmornem Sockel der Namensgeber, Alois Senefelder/ Ob der Erfinder des Steindruckes jemals in Berlin gewesen war, ist nicht bekannt

Prenzlauer Berg. Hier ist das Ende, hier passiert nichts mehr. Zwischen die Sackgasse Kollwitzstraße und die Schönhauser Allee schiebt sich ein spitzes Dreieck Wiese mit ein paar Bäumen. Hier, am Senefelderplatz, hat es sich ausgelebt. Das kulturelle Szenezentrum des Prenzlauer Berges mit touristischem Anschauungswert liegt einige hundert Meter entfernt. Da ist der kleine Platz ein ruhiger Zufluchtsort, wenn man die Kneipen um den Kollwitzplatz verlassen muß, weil es nicht mehr anzuhören ist: das ständige Palaver über irgendwelche Kultur-, Projekt- oder Vereins-ABM-Stellen, die natürlich immer sehr interessant und wichtig sind. Der Senefelderplatz wirkt an der sonst nahezu lückenlos mit Mietskasernen bebauten Schönhauser Allee wie ein Versehen der StadtplanerInnen. Kein Platz, ein Plätzchen ohne nett angeordnetes Drumherum. Keine Geschäfte, eine Kneipe im Souterrain, die »Altberliner Bierstuben«. Die Zeit rast mit den Autos auf dem holprigen Pflaster der vierspurigen Allee vorbei. Aber wer sich hier niederläßt, den interessiert die Zeit nicht. Die jungen Punks spielen selbstvergessen mit ihren zottigen Hunden, die Oma mit dem schmalen Einkaufsbeutel schaut ins Leere.

Schuld an dem grünen Flecken ist Alois Senefelder (1771 bis 1834). Er thront im spitzen Winkel des Dreicks auf mamornem Sockel. Das Geld für jenes knapp 50 Jahre nach seinem Tod errichtete Denkmal hatten Senefelders Berufsgenossen gesammelt. Sie standen im gewissen Sinne in seiner Schuld. Der Bayer erfand Ende des 18. Jahrhunderts den Steindruck, jenes erste, maschinelle Flachdruckverfahren, Lithographie genannt, womit sich die KollegInnen später ihr Brot erwarben. Senefelder hatte sich auch als Schauspieler und Stückeschreiber versucht. Er hatte Mehrfarbdrucke als erster hergestellt und so Ölgemälde reproduziert. Reich geworden ist er trotzdem nie. Vielleicht gehört er deshalb hierher, denn ob er jemals in Berlin war, ist nicht bekannt. Wohlhabend sind die Leute hier auch nicht. Für viele ist der Erwerb der täglichen Zeitung schon zuviel Geldausgabe. Die Frau im Zeitungsladen gegenüber des Platzes, Ecke Schönhauser, spürt es am eigenen Portemonnaie. Letzten Monat waren es gerade 500 Mark, die vom Verkauf für sie selbst übrigblieben. »Das ist hier 'ne Arbeitergegend, und die Leute sind jetzt ohne Arbeit«, erklärt sie den schlechten Umsatz. Sie hofft auf den Winter, in dem die Leute mehr lesen. Sie könnte ja die 500 Mark auch vom »Amt« kriegen, aber die fünf Jahre bis zur Rente mag sie nicht zu Hause herumsitzen. Durch die gestiegene Gewerbemiete kommt sie auf einen Stundenlohn von zwei Mark, rechnete sie sich aus. »Da muß man sich eben knapp halten«. Im Urlaub sei sie schon lange nicht mehr gewesen, höchstens mal zu Besuch bei der Verwandtschaft in Westdeutschland.

Hier am Senefelderplatz, meint die Zeitungshändlerin, habe sich nicht viel verändert. 1945 wurde ihre Familie im »Königssaal«, auf der anderen Seite der Schönhauser, versorgt, weil sie ausgebombt war. Anstelle des einst bekannten Gartenlokals befindet sich nun eine dieser modernen sozialistischen Kaufhallen in der Reihe der Häuser aus den Gründerjahren. Dann fällt ihr doch noch eine Veränderung ein: Direkt am Platz, an der Kollwitzstraße, habe es ein Gymnasium gegeben. Dort, wo jetzt etwas verloren wirkende blau- silberne Girlanden ins »Freizeitcenter« locken sollen.

Sehr versteckt auf dem Hinterhof liegt die Gaststätte des »Freizeitcenters«. Das Konsumdesign hat sich hier wie kaum irgendwo über die Zeitenwende erhalten. Gradlinig angeordnet, stehen Tische mit sauberen Blümchentischdecken vereinsamt auf dem Parkett. An den Wänden zum Klo findet man Funzel-Aktfotos aus dem 'Eulenspiegel‘, liebevoll hinter Glas gehängt. Eine der drei übriggeblieben MitarbeiterInnen freut sich, daß etwas übers »Freizeitcenter« in die Zeitung soll. Sie wünschen sich natürlich mehr Gäste, aber die Turnhalle und die Kegelbahn würden doch viel genutzt. Das Objekt gehört dem Betrieb »Ingenieurhochbau Berlin«, und dahin kommen die zwar aufgelösten, aber doch unzertrennlichen Betriebssportgemeinschaften immer noch gern. Ansonsten vermiete man die Gaststätte für Schulungen, das bringe mehr Geld als das Warten auf Gäste.

Die Ideen zur marktwirtschaftlichen Umgestaltung des Pfefferberges an der Schönhauser Allee sind zeitgemäßer, alternativer. Am vergitterten Eingang erinnern tote Briefkästen an die ehemaligen Inhaber: »VEB KWV Arbeiterversorgung«, »VEB KWV Sicherheitsinspektor«. Bevor die Verwaltungsbürokratie eingezogen war, weiß die Zeitungsfrau, amüsierten sich dort die Leute im Gartenrestaurant und in den umliegenden Lokalen der dazugehörigen Brauerei. Die Wohnungsbaugesellschaft muß das Objekt abstoßen. Der Verein »Pfefferwerk« will auf dem riesigen Gelände ein Konglomerat kultureller, sozialer und gewerblicher Projekte ansiedeln. Mindestens 60 Interessierte haben sich schon beworben. Falls der Senat dem Geamtprojekt zustimmt, werden die Kulturarbeiter ohne ABM-Stellen wohl vom Kollwitzplatz zum Senefelderplatz ziehen. Und die Zeitungsfrau wird vielleicht ein paar Kunden mehr bekommen. Anja Baum