Gibraltar — Steuerparadies auf dem Affenfelsen

Gibraltar, der Felsen in der Klemme zwischen britischer Oberhoheit und spanischem Anspruch, lebt von Banken und Duty-free-shops. Britische Atmosphäre an der Südspitze der Iberischen Halbinsel  ■ VON ANTJE BAUER

Morgens früh schon beginnt der Ansturm. Von der spanischen Grenzstadt La Linea aus pilgern Hunderte spanischer Hausfrauen, das Einkaufswägelchen im Schlepptau, Rentner am Stock und jugendliche TouristInnen mit Rucksack in Richtung Grenze, während neben ihnen Dutzende Reisebusse aus Andalusien oder Portugal dem selben Ziel entgegenrauschen. Direkt hinter den Grenzhäuschen steht provokativ ein grellrotes, altes britisches Telephonhäuschen, das mit Cents gefüttert werden muß. Ein in Englisch und Spanisch gehaltenes Schild weist die Fußgänger an, sich innerhalb der weißen Linien zu bewegen und keinen Abfall auf den Boden zu werfen. Die Zeichnung eines gestrandeten Flugzeugs erläutert die fatalen Folgen von „rabbish“ auf der Piste — die ersten paar hundert Meter Zufahrtsstraße nach Gibraltar sind gleichzeitig Landebahn des örtlichen Flughafens.

Der Ansturm der Besuchermassen gilt ausnahmslos dem selben Ziel, der Main Street, von den Spaniern auch gern Calle Real genannt. Sie beginnt direkt hinter den Kasematten, in denen früher das Militär untergebracht war, das die Insel vor den Spaniern verteidigen sollte, und schlängelt sich wie ein Lindwurm durch den ganzen Ort. Seit der Kampf um die Oberherrschaft über den Felsen vom militärischen auf das diplomatische Feld übergegangen ist, sind in den Kasematten andere Bewohner kaserniert: Die langgestreckten steinernen Hallen stehen heute voller mehrstöckiger Betten, in denen sich die marokkanischen Gastarbeiter wohlfühlen sollen. Um die 2.000 sind es, die auf Gibraltar die Straßen fegen, den Müll versorgen und Häuser für die anderen bauen — noch gibt es keine offenen Konflikte.

Die Main Street ist nicht nur von ihrer strategischen Lage und von ihrem Namen her die Hauptstraße, sondern auch, weil sich in ihr der sichtbare Teil der gibraltarischen Wirtschaft befindet. 8.000 Duty- free-Läden gibt es auf Gibraltar, und die Mehrzahl davon reiht sich in der Main Street aneinander. Schmale Läden, die sich weit nach hinten ausdehnen, quellen über von Fotoapparaten, Videogeräten und elektrischen Haushaltgeräten, dazwischen liegen kleine Juweliergeschäfte, deren Auslagen in Gold erstrahlen und Stoffläden, in denen bestickte Bettüberzüge erstanden werden können. In rummeligen Krämerläden werden den Käufern die Zigarettenstangen geradezu hinterhergeworfen. Umgerechnet eine DM kostet eine Packung Filterzigaretten, gegenüber drei DM im benachbarten Spanien. Auch Whisky, Cognac und die Lieblingsschokoladen alter englischer Damen werden gerne ins Einkaufswägelchen gestopft. Vier Millionen Besucher kommen jährlich nach Gibraltar und lassen 60 Millionen Pfund, 180 Millionen DM, da.

Zwischen den alten Lädchen im Kolonialstil machen sich in der Main Street moderne Gebäude breit: die Banken. Dreißig davon gibt es auf Gibraltar, eine pro Tausend Einwohner. Diese dreißig Banken bewegen 30,5 Milliarden Pfund, umgerechnet knapp 100 Milliarden DM. Sie arbeiten mit Unternehmen zusammen, die ihren Sitz in den Nebenstraßen der Main Street innehaben. Die Real Estate Agencies betreiben den größten Teil des Immobilienmarktes der andalusischen Küste. In ihren Auslagen stehen Fotos von wunderschönen palmengesäumten Fincas, deren Erwerb durch einen Makler in Gibraltar die Umgehung der Verkaufssteuer ermöglicht. Die spanische Regierung hat mehrfach Bedenken angemeldet bezüglich der Rechtschaffenheit der Bankentätigkeit. Sie dienten der Geldwäsche von Narco- Dollars, so der wiederholte Vorwurf. James Levy, Anwalt in einer der größten Handelskanzleien des Felsens, bestreitet freilich, daß auf Gibraltar Geld gewaschen wird, zumal die Gesetze härter seien, als in Spanien. „Ich bin sicher, daß sich 99 Prozent der Bankiers hier auf Gibraltar nicht dazu hergeben würden“, versichert Levy. Von seinem Büro im National Westminster House, einem der Renommiergebäude des modernen Gibraltar, hat er einen weiten Blick auf Hafenanlagen und Meer.

James Levy ist nicht nur ein gutverdienender Anwalt, sondern darüber hinaus Vorsitzender der örtlichen Jüdischen Gemeinde. Die Vorfahren der 600 Mitglieder zählenden Gemeinschaft wurden von den katholischen Königen Ferdinand und Elisabeth vor 500 Jahren aus Spanien vertrieben und flohen in andere Mittelmeerländer. Kurz nachdem Gibraltar Anfang des 18. Jahrhunderts in britische Oberhoheit überging, siedelten zahlreiche Sefarditen auf den Felsen über — nach Angaben von James Levy vor allem wegen der Handelsmöglichkeiten, die sich auf Gibraltar ergaben. Heute ist die jüdische Gemeinschaft klein, aber angesehen. Rund ein Drittel aller Geschäfte werden von ihnen getätigt. Es gibt ein jüdisches Altersheim und einen Club, eine koschere Metzgerei und mehrere Restaurants. Der aktive Teil des Kultus in den vier Synagogen ist den Männern mit den traditionellen runden Käppchen oder dem weißen Kremphut vorbehalten, während die Frauen vom Chor aus herunterlinsen müssen.

30.000 Einwohner hat Gibraltar, davon sind 20.000 Einheimische. Da der Felsen nach seiner Eroberung durch Briten und Holländer zur Festung ausgebaut wurde, lebten zunächst fast nur Männer — Militärs — hier. Doch mit der Zeit kamen nicht nur aus nahegelegenen Mittelmeerländern neue Siedler her. Immer häufiger verliebten sich britische Soldaten während ihrer Militärzeit auf Gibraltar in eine Spanierin von der anderen Seite der Grenze. Nach Versetzungen nach Großbritannien sehnten sich die Frauen, wenn ihre Männer ins zivile Leben zurückgekehrt waren, meistens nach Hause. Als Kompromiß zog das Paar dann häufig nach Gibraltar. An den Stränden des Felsens können die verschiedenen Nuancen der britisch-andalusischen Mischung bewundert werden: Rotblonde, sommersprossige junge Väter mit Bierbauch erteilen dort in Englisch ihren in der Regel recht zahlreichen Sprößlingen Unterricht im Fußballspiel, während schwarzhaarige, breithüftige Mütter Tortilla auspacken und der im Klappstühlchen verstauten Großmutter im weichsten Andalusisch die neuesten Familiengeschichten herunterschnattern.

Neben Briten, Spaniern, Sefarditen und anderen Minderheiten lebt auf Gibraltar auch eine Kolonie schwanzloser Affen. Bis Anfang der siebziger Jahre besuchten sie gelegentlich den Ort, wenn auch nicht immer zum Vergnügen seiner Einwohner, da ihnen dabei manchmal geliebte Gegenstände abhanden kamen. Seit Verkehr und Menschenmassen drastisch zugenommen haben, bleiben die Affen lieber auf dem Berg. Die Gemeinschaft wird von Pflegern betreut, kann sich jedoch frei im Gehölz des Berges bewegen. Die meisten halten sich am liebsten in der Nähe ihrer Käfige auf, weil sie dort den Besuchern in die Hosentaschen langen können, und außerdem liegt dort ihr Swimmingpool.

Nicht nur die geringe Zahl der Einwohner, sondern auch die jahrelange Isolierung vom Hinterland verleiht Gibraltar die Atmosphäre eines Dorfs. Wer den Besucherstrom der Main Street verläßt, stößt auf kleine Gäßchen, in denen sich Hausfrauen in Blümchenkleidern beim Einkaufen unterhalten. Busfahrer lächeln und Marokkaner grüßen sich so ungezwungen auf der Straße, als sei der Rassismus noch nicht erfunden worden. Autofahrer halten, wenn sie am Straßenrand Fußgänger sehen, und für die zahlreichen Motorräder sind extra Parkplätze eingerichtet worden. Wie in jedem Dorf gibt es freilich auch hier Unterschiede: Hinter den protzenden Fassaden der Main Street liegen die feuchten, dunklen Hinterhöfe, in denen es nach Katzenpisse und Abfall stinkt und der Putz blättert.

Die Sprache des Felsens ist Englisch, nicht nur, weil die Männer es sprechen, sondern auch, weil Gibraltar nicht umsonst dem United Kingdom angehört. Auch sonst erinnert nur wenig daran, daß Gibraltar am südlichen Zipfel der Iberischen Halbinsel liegt. Vergeblich sucht die Reisende nach einem Stehcafé, wo sie kurz bei einem Milchkaffee verschnaufen könnte — hier gilt es, sich in einen Pub zu setzen und wie alle anderen Gäste ein Bier zu zischen. Statt der köstlichen andalusischen Tapas, Appetithappen für zwischendurch, werden hier Fish and Chips gereicht. Die Autos fahren zwar rechts, doch das Zeremoniell der Ehrengarde vor dem Rathaus ist eindeutig britisch. Auch das Leben orientiert sich an Großbritannien. Abends ab sieben, wenn die Geschäfte nach und nach schließen, leeren sich die Straßen. Im Zubringerbus zur Grenze sitzen die rucksackbepackten TouristInnen, die in Ermangelung von Pensionen auf Gibraltar nach Spanien zurückkehren und die Hausfrauen aus La Linea mit vollbepackten Einkaufswägelchen. An der Haltestelle lupft eine alte Frau in schwarz ihren Rock und verstaut eine Reihe Zigarettenschachteln darunter. Andere wandern in den BH. Ein bedauernder Blick auf den leeren Karton, dann fliegt er in eine Ecke. An der Grenze lange Schlangen, die Zöllner kontrollieren den Tascheninhalt — falls für mehr als 100 DM eingekauft wurde, muß Steuer bezahlt werden. Zehn Minuten Fußmarsch bis ins Zentrum von La Linea. Während in Gibraltar die Straßen langsam aussterben, fängt hier der abendliche Familienspaziergang erst an.