Freßsucht auf dem europäischen Binnenmarkt

Die EG-Kommission berät über Fusionskontrolle/ Marktwirtschaftler haben keinen leichten Stand  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Der Stahlkonzern Krupp schluckt seinen alten Konkurrenten Hoechst. Renault verbündet sich mit Volvo, Fiat mit den polnischen Motorenwerken FSM und Bosch mit Varta. Keine Frage: Die „Euro-Champions“ mästen sich — aus Furcht vor den Giganten aus Japan und den USA. Kaum eine Woche vergeht ohne neue Fusion.

Die EG-Kommission jedoch, die als Hüterin des freien Wettbewerbs in Europa eigentlich den Wildwuchs der Großkonzerne kontrollieren soll, begnügte sich bislang mit mehr oder weniger moderaten Auflagen. Seit dem Inkrafttreten der EG-weiten Fusionskontrolle vor einem Jahr, stimmten die Kommissare dem Zusammenschluß von Unternehmen 52 Mal zu. Erst beim 53. Mal war es mit ihrer Geduld vorbei.

Anfang Oktober votierten die 17 Kommissare mehrheitlich gegen den geplanten gemeinsamen Kauf der kanadischen Boing-Tochter De Havilland durch den französischen Staatskonzern Aerospatiale und die italienische Alenia. Der italienische Transportminister Carlo Bernini verlangte daraufhin, die Vorschriften für die europäische Fusionskontrolle müßten geändert werden. Sein französischer Kollege Paul Quiles warf dem verantwortlichen EG- Kommissar Sir Leon Brittan vor, „einen Großangriff auf Frankreich und die Gemeinschaft“ zu unternehmen. Die französische Regierungschefin Edith Cresson forderte sogar, diese „skandalöse Entscheidung“ zurückzunehmen.

Die vehementen Proteste blieben im Kreis der EG-Kommissare nicht ohne Wirkung. Zusammen mit einigen Kollegen nützte der für Binnenmarktfragen zuständige Ex-Wirtschaftsminister Martin Bangemann die Gunst der Stunde, um eine Machtbeschneidung des britischen Kommissars Brittan einzufordern. Weil sich die EG-Regierungen nicht auf die Einrichtung eines europäischen Kartellamts einigen konnten, waren dem für Wettbewerb zuständigen Kommissar vor einem Jahr weiterreichende Befugnisse übertragen worden: Er soll bei Firmenzusammenschlüssen eingreifen, deren Gesamtumsatz 10 Milliarden DM übersteigt und die den „Wettbewerb im Binnenmarkt erheblich behindern“. Dies ist nach EG-Gesetzen dann der Fall, wenn durch eine Fusion ein Marktanteil von über 40 Prozent erreicht wird.

Mit De Havilland hätten Aerospatiale und Alenia als Marktführer bei kleineren Passagierflugzeugen ihren stärksten Konkurrenten geschluckt und so die Hälfte des Weltmarkts kontrollieren. Die EG-Wettbewerbshüter sahen allen Grund, die Notbremse zu ziehen. Über das Ergebnis ihrer viermonatigen Prüfung wurden die übrigen Kommissare erst vor der entscheidenden Sitzung informiert.

Dieses Verfahren erlaube es, so die Kritiker, die anderen Abteilungen vor vollendete Tatsachen zu stellen. Statt dessen fordern die Kommissare um Bangemann, insbesondere ihre für den Binnenmarkt zuständige Generaldirektion frühzeitig zu beteiligen. Die EG-Wettbewerbshüter wenden ein, dadurch würde ihre Glaubwürdigkeit untergraben; zudem bestünde die Gefahr, daß Ermittlungen verwässert oder Beschlüsse verzögert würden. Heute soll dieser Streit in Brüssel entschieden werden, wenn das Fusionskontroll-Verfahren zur Überprüfung ansteht.

Dabei geht es um mehr als einen Verfahrensstreit. Während die Wettbewerbshüter auf die Gefahren von Monopolen hinweisen, halten die Wirtschaftsplaner dagegen, eine europäische Wettbewerbspolitik müsse in erster Linie die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Industrie gegenüber ihren internationalen Konkurrenten stärken. Firmenfusionen, so die Kritiker, seien oft nur Ausdruck innerer Schwäche und ohne volkswirtschaftlichen Nutzen.

Derartige Erkenntnisse können den europäischen Multis die Freßlust allerdings nicht verderben. Der jüngste EG-Bericht weist eine rapide Zunahme der Firmenfusionen aus: Von 303 im Jahre 1986 haben sich die Zusammenschlüsse bis 1990 auf 622 mehr als verdoppelt.

Binnenmarktkommissar Bangemann engagiert sich in diesem Dauerkonflikt in beiden Lagern. Einerseits predigt er freie Konkurrenz — beispielsweise bei der Öffnung des EG-Automobilmarkts für die japanischen Hersteller. Auf der anderen Seite propagiert der einstige Trauzeuge der Daimler-Fusion eine Brüsseler Industriepolitik, die Fusionen, etwa im Luftfahrtsektor, regelrecht fördert.

Damit liegt Bangemann im Trend: Seit Monaten verlieren die Apologeten des Freihandels in der EG an Boden. Das Projekt Binnenmarkt '92, so die wachsende Befürchtung in Unternehmerkreisen, führe zum Ausverkauf an die japanische und US- amerikanische Konkurrenz. Statt die Marktkonkurrenz zu forcieren, so die Aufforderung an die Kommissionsmitglieder, sollten in Zukunft besser ganze Branchen geschützt werden. Pläne, den Wettbewerb in der EG 1994 zu verschärfen und die Umsatzschwelle für Fusionen von jetzt zehn Milliarden DM auf vier herabzusetzen, genießen derzeit wenig Realisierungschancen. Das gilt ebenso für den Vorschlag, ein europäisches Kartellamt einzurichten. Inzwischen bedauern selbst die europhilen Regierungen in Paris oder Rom, daß sie dem Kompetenztransfer in Sachen Fusionskontrolle nach Brüssel zugestimmt haben.