Memminger Rechtsirrtum verzeihlich

Bundesgerichtshof verlas gestern das seitenlange Protokoll des „Befangenheitskarussells“ Der jetzt zuständige Senat überlegt Einholung des Rates der Kollegen  ■ Aus Karlsruhe Heide Platen

Mit einem gar nicht höchstrichterlichen Schmunzeln verlas der Beisitzende Richter, Doktor Foth, gestern im ersten Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe unter hohen Sicherheitsvorkehrungen einen Teil der Geschichte des Prozesses gegen den Arzt Horst Theissen aus Memmingen (siehe taz von gestern). Das Kapitel, wie sich die dortigen Richter am Landgericht 1988 und 1989 gegenseitig für unbefangen erklärt hatten, füllte Seiten.

Theissen war im Mai 1989 wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs in 36 Fällen zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft und drei Jahren Berufsverbot verurteilt worden. Der Memminger Richter Barner habe sich damals, so die Verteidigung, in zwei Fällen seine Vorurteile nicht verkneifen können und sie laut im Gerichtssaal geäußert. Dies allein sei aber nicht der Grund ihrer Revision. Auch hätten sie es noch ertragen, daß Barner der Meinung gewesen sei, er sei nicht befangen, als er sich, zumindest indirekt, mehrmals selbst für unbefangen erklärte. Nur, so der Frankfurter Rechtsanwalt Kempf gestern, daß er sich auch nicht habe belehren lassen, könne nicht hingenommen werden.

Selbst wenn dem Richter Barner das Urteil des zweiten Strafsenats des BGH aus dem Jahr 1983 nicht bekannt gewesen sei, das eben solche Konstellationen verhindern sollte, hätte er auf die Hinweise der Verteidigung und des Angeklagten hören und deren Argumente zumindest prüfen müssen. So aber sei für Theissen der Eindruck entstanden, er habe „kein rechtliches Gehör, er rede zu tauben Ohren“.

Der Bundesanwalt gab der Verteidigung gestern insofern recht, daß sie deren Revisionsantrag für „nicht unbegründet“ hielt. Sie stellte sich aber vor die Memminger Richter, die keinesfalls verpflichtet gewesen seien, jedes BGH-Urteil zu kennen und sichtbar von der Rechtslage vor 1983 ausgegangen seien. Sie hätten sie sich aber „später zu eigen gemacht“ und nachträglich neutrale „unbefaßte“ Richter über die Befangenheitsanträge entscheiden lassen. „Willkür“ sei den Memminger Richtern schon deshalb nicht vorzuwerfen, weil sie ihre Entscheidungen — wenn auch nach falscher Rechtslage — „nicht unbesehen und ungeprüft“ getroffen hätten. Auch spiele dieser Rechtsirrtum deshalb keine Rolle, weil Theissen daraus kein Schaden entstanden sei. Das formale Befangenheitsverfahren habe keinen Einfluß auf das Urteil gehabt.

Der erste Strafsenat vertagte sich gestern Mittag auf Ende November. Er wird aber wahrscheinlich bereits vorher in diesem Teilaspekt entscheiden. Ob er dazu den Rat des zweiten Strafsenats einholt, auf dessen Urteil sich dieser Teil der Revision stützt, ließ der Vorsitzende Richter Gribbohm offen.