Helvetias Beitritt gerät zur Schicksalsfrage

■ Für die Europa-Kompatibilität der Schweiz ist die direkte Demokratie ein Stolperstein

Der Alpentransit war es, der für die Verkehrsminister der EG auf der einen, der EFTA-Länder Österreich und Schweiz auf der anderen Seite zur Schlüsselfrage geriet: Mit dem Inkrafttreten des EG-Binnenmarktes wird sich das Transportaufkommen der EG-Partner auf den Nord-Süd- Verkehrsachsen nach Schätzungen mancher Experten etwa verdoppeln. Die ohnehin arg gestreßte Umwelt längs der überlasteten Transitschneisen über den Brenner (Österreich), den St. Gotthard und den St. Bernhard (Schweiz) würde noch stärker gebeutelt. Die Alpenländer stellten sich quer: Wien erließ trotz heftiger Proteste aus Brüssel ein Nachtfahrverbot für die Brennerautobahn; Bern beharrte auf dem in der Schweiz geltenden LKW-Höchstgewicht von 28 Tonnen (EG: 40 Tonnen). Eine Lockerung des 28-Tonnen-Limits, gar ein weiterer Ausbau der Transitautobahnen, da gab sich Bern hart wie Granit, sei den Eidgenossen nicht zuzumuten. Statt dessen boten ihre Unterhändler den extensiven Ausbau ihrer Schienenwege an.

So klein und rein, wie sie sich in den EWR-Verhandlungen in puncto Verkehr und Umweltschutz gerne gibt, ist die Schweiz dabei keineswegs. Schließlich haben die Schweizer selbst und höchst freiwillig ihre Alpentäler in den vergangenen Jahrzehnten zubetoniert. Und natürlich donnern schweizerische Speditionsunternehmen im Ausland mit 40-Tonnern über den Asphalt. Die Regierung in Bern will die europäischen Verkehrslawinen jetzt mit einem Jahrhundertprojekt kanalisieren: NEAT. Das Kürzel steht für Neue Eisenbahn-Alpen-Transversalen und meint den Neu- und Ausbau alpenquerender Bahnstrecken samt vollautomatisierter Containerterminals, Huckepack-Stationen usw. Die Sache hat einen Haken: NEAT unterliegt der sogenannten Referendumspflicht, das heißt: Schon mit 50.000 Unterschriften können die Gegner des Projektes eine Volksabstimmung erzwingen. Neben einer populistisch-rechten Autolobby haben auch schon die Grünen ihren Widerstand gegen die NEAT angemeldet. Die Berner Regierung wuchert in Brüssel also mit Pfunden, derer sie so sicher gar nicht sein kann. Scheitert NEAT an der Urne, das weiß man in Bern ganz genau, ist die ohnehin lausige Europa-Kompatibilität der Schweiz dahin.

Und um die geht es letztlich bei den EWR-Verhandlungen. Vor Jahren als gemeinsames Projekt zweier gleichberechtigter Partner, eben EFTA und EG, ins Auge gefaßt, haben die Brüsseler Eurokraten den angepeilten EWR längst zur Vorstufe für einen EG-Beitritt der EFTA-Länder degradiert. Tatsächlich haben die meisten EFTA-Länder mittlerweile offiziell ihre EG-Aufnahme beantragt oder stehen kurz davor. Deshalb lügen sich auch jene EFTA-Regierungen mächtig in die Tasche, die den jüngsten EWR-Kompromiß zu Hause jetzt als großen Erfolg verkaufen: Denn in wenigen Jahren, wenn etwa Österreich oder Schweden der EG beitreten, werden diese Länder uneingeschränkt EG-Recht übernehmen müssen.

Die EFTA wird bald wohl nur noch aus Island und der Schweiz bestehen. Für letztere gerät der EG- Beitritt zur Schicksalsfrage. In den Kulissen drängen Wirtschaftsverbände und Konzerne längst auf EG- Beitrittsverhandlungen. Doch die Regierung und die führenden Parteien — außer den Sozis, die pro EG plädieren — schieben das Thema wie eine Gletschermoräne vor sich her. Denn sie wissen: Auch über einem EG-Beitritt baumelt das Damoklesschwert der Volksabstimmung. Über deren Ausgang darf spekuliert werden. Zur Erinnerung: Vor wenigen Jahren lehnten die Eidgenossen den Beitritt der Schweiz zur UNO ab! Thomas Scheuer, Basel