Die Strategie nicht durchgehalten

Nach Verhandlungen mit den Celler Geiselnehmern setzt die niedersächsische Polizei doch auf die Fahndung  ■ Aus Celle Jürgen Voges

Vier Fotos von starr oder auch herablassend blickenden Männern im Alter zwischen 28 und 37 Jahren bekommen die Journalisten im sechsten Stock des Celler Polizeipräsidiums in die Hand, dazu kurze Beschreibungen der jetzt per bundesweiter Fahndung Gesuchten, die sie als „schwere Räuber“ oder Mörder ausweisen, die in der Justizvollzugsanstalt Celle I noch Freiheitsstrafen bis zum Jahre 2006, 2011 oder gar lebenslänglich abzusitzen hatten. „Wir sind uns der Endgültigkeit der Situation ebenso bewußt wie der Perspektivlosigkeit unseres menschenunwürdigen Daseins“, schreiben die vier Geiselnehmer in einer Presseerklärung, die die Polizei eine der Forderungen erfüllend den Journalisten ebenfalls übergibt. „Wir sind bereit, für unser Ziel zu sterben und im Fall eines Angriffs der Staatskiller ein Fanal zu setzen und unsere Bürgschaftsgefangenen mit in den sicheren Tod zu nehmen.“

An der Entschlossenheit der vier Geiselnehmer, die seit Montag morgen drei Justizvollzugsbeamte mit selbsgefertigten Sprengkörpern und einem Schußapparat bedrohten, hat die Polizei von vorherein nicht gezweifelt. Zwar wurden insgesamt 613 Beamte im und um das ehemalige Celler „Zuchthaus“ zusammengezogen. Doch bis zum gestrigen Nachmittag versuchte die Einsatzleitung gegenüber den Geiselnehmern „Glaubwürdigkeit zu beweisen“, wollte zwar auch „Zeit gewinnen“, war aber „bemüht, die Forderungen der Geiselnehmer zu erfüllen“, wie der Chef der Celler Kripo, Kriminaldirektor Erich Phillips, sagte. Den Gefangenen, die sich mit ihren drei Opfern im Sicherheitstrakt im ersten Stock des Celler Gefängnisses verschanzt hatten, wurden die geforderten zwei Rucksäcke, ein Fernglas und eine Polaroid-Kamera übergeben und nach einigen Schwierigkeiten schließlich auch zwei Millionen DM.

Selbst die Forderung nach einer Nachrichtensperre hatte die Polizei bis zur gestrigen Pressekonferenz erfüllt. Als genau um 23 Uhr 23 die vier Gefangenen nun noch mit zwei Geiseln — einen kranken Vollzugsbeamten hatten schon in der Anstalt zurückgelassen — in einem „VW Passat, Farbe justizgrün“ schließlich ihre Flucht begannen, sperrten sogar zwei Polizeifahrzeuge am Stadtrand von Celle hinter ihnen die Bundesstraße ab, um Journalisten an der Verfolgung zu hindern. Die zweite Geisel wurde dann am Dienstag morgen um sechs Uhr in diesem Passat mit Handschellen an das Lenkrad gefesselt aufgefunden. Nach eigenen Angaben hatte die Polizei da die Spur der Flüchtigen schon verloren.

Die dritte Geisel allerdings befand sich wahrscheinlich noch in der Gewalt der Entführer, als die Celler Kripo die Fotos der Entführer den Journalisten erst übergab, dann bat, sie nicht zu veröffentlichen, und nach telefonischer Rücksprache mit dem Innenministerium in Hannover dann doch freigab. Die Geiselnehmer hatten in ihrer Presseerklärung „die Verantwortlichen ausdrücklich aufgefordert, im Interesse der Geiseln vor deren Freilassung von der Veröffentlichung unserer Identität abzusehen“.

Das Justizministerium in Hannover hat gestern ausdrücklich dementiert, daß es der Herausgabe der Fotos vor der Freilassung der letzten Geisel zugestimmt habe. Die Einsatzleitung begründete ihren Wechsel in der Strategie gestern damit, daß sie mit der Freilassung auch der letzten Geisel schon in den Morgenstunden gerechnet habe.