DEBATTE
: Die neue Klammheimlichkeit

■ Das „Kollektiv“ der Ausländer gibt es nur in unserem inländischen Kopf

Der Chef der Treuhand wurde aus dem Dunkeln ermordet, als er im hellen Fenster seines Hauses von außen zu sehen war. Es war abends, die Schüsse waren gezielt. Ein feiger Mord aus dem Dunkeln. Im Entsetzen über die Heimtücke und in der Trauer um das Opfer, im Mitgefühl mit den Angehörigen wäre jedoch niemandem eingefallen, als Antwort auf Rohwedders Ermordung von einer Reform der Treuhand zu reden. Kein Gedanke daran, in irgendeiner Form den Tätern nachträglich zuzubilligen, daß sie vielleicht irgendeinen aberwitzigen subjektiven Grund hatten, ihr Opfer zu hassen. Ein solcher Gedanke verbietet sich nicht allein aus Scham und Anstand, sondern auch aus Demokratie-Räson. Unsere Grundphilosophie lautet: Niemand darf irgendein Ziel mit Gewalt zu erreichen versuchen. Für fast jedes Ziel muß es streitbare öffentliche Auseinandersetzung geben. Auch von diesem gewaltfreien Streit ausgenommen bleiben die Grundrechte der Verfassung. Sie stehen nicht zur Disposition.

Die terroristische Gewalt gegen Schlafräume, in denen sich nichtdeutsche Familien aufhalten, die offene Gewalt in Bahnen und Bussen gegen „ausländisch“ aussehende Mitreisende und deren spontane Schützer ist in den letzten Wochen vor allem im deutschen Bundestag und in unzähligen Kommentaren behandelt worden. Und dies in einem geradezu verfassungsfeindlichen Kontext: Die terroristische Gewalt ist vom Innenminister zwar entschieden verurteilt worden, aber immer im Zusammenhang mit der Diskussion über das Asylrecht und einer Änderung der Verfassung.

Weit mehr sagte er über die vielen Asylbewerber als über die Gewalttäter und ihre klammheimlichen oder strammöffentlichen Brandstifter. Im Bundestag ist mehr über die Angst der Deutschen vor Asylsuchenden als über die Angst vieler Ausländer vor Mordanschlägen gesprochen worden. Der Staat hat also eilfertig den mordbereiten Tätern das Signal zukommen lassen (ob bewußt oder fahrlässig, ist leider zweitrangig): Wir haben euren Haß verstanden, wir treten in die Verfassungsdebatte ein. Der Innenminister des deutschen Verfassungsstaates scheint die Gefahr nicht zu sehen. Die gefährliche Wirkung auf die Demokratie, die sein Verhalten auslöst, könnte weit über die Gefährdung der bedrohten Menschen hinausgehen.

Pogrome beginnen im Kopf, hat mein Kollege Hirsch im Bundestag gesagt. Die Gewaltakte mißbilligend in Kauf genommen haben Tausende, die wegschauen. Das wurde ihnen leicht gemacht, weil auch die Bundesregierung intensiver über das Problem, das die Opfer darstellten, sprach als über den Skandal der Täter. Da ist die Substanz des demokratischen Rechtsbewußtseins beschädigt worden.

Ein Brandanschlag etwa auf den Schlafraum eines Gefängnisses mit lebenslänglich Verurteilten durch die Opfer der Verurteilten wäre ein Mordversuch. Niemand würde aus einem solchen (hier fiktiv eingeführten) Gewaltakt eine Diskussion über die Zahl der in deutschen Gefängnissen Inhaftierten ableiten. Mordanschläge sind Mordanschläge: auf Deutsche, auf Ausländer, auf Verurteilte, auf Leute, die man mag und auf Leute, die man grauenvoll findet. Punktum.

Es ist dringend an der Zeit, daß wir alle wieder zu Sinnen kommen. Die wie eine Antwort auf die Gewalt geführte Diskussion um das deutsche Asylrecht nimmt keinem der fünf Millionen Nichtdeutschen bei uns die Angst. Selbst wenn es dem wahrlich weder „durchraßten“ noch „durchmischten“ Innenminister Stoiber gelänge, Deutschland mit Mauer und Stacheldraht hermetisch gegen Einwanderer abzusperren, würde dadurch nicht ein einziges potentielles Opfer vor der grassierenden Gewalt geschützt.

Potentielle Opfer dieses neuen Terrors sind beleibe nicht nur Asylbewerber, sondern alle ungeschützten „ausländisch“ aussehenden Menschen in unserem Land. Potentielle Opfer sind inzwischen auch die vielen Deutschen, die sich schützend vor Asylbewerber oder vor Angegriffene in Bussen und Bahnen stellen.

Da liegt die zweite dramatische Folge der falschen Verquickung von Gewalt und Asylrecht: Plötzlich fangen andere an, sich mit Gewaltmitteln gegen mögliche Angriffe zu schützen. Solche Gewalt ist wie das Feuer der Brandsätze: sie lodert weiter. Nein, die Polizei kann nicht alle Bedrohten schützen. Das konnte sie auch nicht in den siebziger Jahren vor der RAF, trotz des gigantischen Aufgebots, das damals nötig schien und möglich war. Wir wollen keinen Polizeistaat, weder damals noch heute. Aber den Einsatz der staatlichen Mittel gegen die bekannten Täter und Gruppen, die Beobachtung der klammheimlichen und strammöffentlichen rechtsextremen Szene, die deutliche Information über alle die Organisationen, die diesem Terror Vorschub leisten oder ihn gar begrüßen. Aber was die Polizei nicht leisten kann, das müssen wir Bürger alle gemeinsam schaffen: eine Schutzkultur um die Bedrohten und die sich bedroht Fühlenden.

Es geht nicht darum, die Welt in gute und schlechte Menschen einzuteilen. Nach dem Motto: Alle Deutschen sind schlecht und alle Nichtdeutschen gut (oder umgekehrt oder wie auch immer). Das tun Rassisten jedweder Couleur. Es geht um die radikale Ächtung terroristischer Gewaltanwender; um das Erkennen der bewußten oder unbewußten Biedermännerei. Und es geht auch darum, eine perfide Strategie öffentlich zu machen, die bewußt Gewaltakte in die Asyldebatte hineintreibt. Da hoffen Leute auf Wähler, die Schindluder treiben mit dem Geist der Verfassung.

Wir sind im Kern des ältesten Kulturproblems: der Fremden. Da werden mit Statistik und Einzelgeschichten Kollektivängste gegen vermeintliche Kollektive geschürt, die gar keine sind. Das Kollektiv der „Ausländer“ gibt es nur in unserem inländischen Kopf. Das Kollektiv der Flüchtlinge gibt es nur in den Köpfen und in den Akten. Was hat eine Bahai-Familie mit einem kroatischen Ehepaar, das der Zerstörung seines Dorfes entfloh, zu tun? Kommen wir um Himmels willen zurück von den abstrakten Begriffen zu den wirklichen Menschen, die bei uns und hoffentlich mit uns leben.

Beim Hufeschlagen der apokalyptischen Gäule hört alle Politik auf. Wenn erleuchtete Zukunftsdeuter immer wieder den schauderhaft richtigen Satz formulieren: „In Deutschland können schließlich nicht alle Menschen der armen Welt Platz haben“, dann läuten die Todesglocken für jegliche rationale Politik. Der Satz ist richtig und radikal unsinnig.

Wenn die neue Zunft der Lawinenforscher uns geheimnisvoll auf die Welt-Menschenlawine aufmerksam macht, oder Nautikexperten uns immer wieder auf die Grenzen der Frachttonnage von Booten hinweisen, dann wird Angst erzeugt, Zorn und Haß. Solche Endzeitrhetorik lockert den humanen Konsens unserer Demokratie. Wir alle müssen runter vom hohen apokalyptischen Roß.

Die große Mehrheit der Deutschen lehnt die Mordtaten und die terroristischen Gewalttäter ab. Zugleich fühlt die Mehrheit der Deutsche eine neue Fremdheit im eigenen Land, die viele Ursachen hat. Eine davon ist der schwierige Prozeß, zu akzeptieren, daß wir faktisch Einwanderungsland geworden sind. Daß die „Gastarbeiter“ keine Kurzfristbesucher mit begrenztem Landgang waren, sondern in der zweiten Generation hier leben.

Über all das können wir reden. Nicht jedoch reden können wir über die klammheimliche Biedermännerei, die eine Verfassungsdebatte auf Brand und Mord stützen möchte. Freimut Duve

Der Autor ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages und SPD-MdB