Der letzte Aktivist im Regal

■ Manfred Gerlach präsentiert »Mitverantwortlich«

Einer fehlt noch: Erich Mielke gibt es nur in Moabit, aber nicht in der Buchhandlung. Der Rest der alten DDR-Führungsriege trifft sich zum Verstauben im Regal wieder. Nach den Schabowskis, Wolfs und Modrows legt jetzt eine ehemalige Blockflöte nach, Professor Dr. Manfred Gerlach, langjähriger LDPD-Chef und nicht zuletzt das letzte Staatsoberhaupt der DDR.

Auf 455 Seiten bekennt er sich als Liberaler im SED-Staat, kommt damit im Vergleich zur Konkurrenz ziemlich spät über den Büchertisch, was aber, so Manfred Gerlach, bewußt und gewollt erst jetzt passiere.

Dieser Manfred Gerlach hebt sich schon rein äußerlich von den übrigen Ex-Führungskadern ab: er sieht aus wie der Aristokrat im Arbeiter-und- Bauern-Staat. Die grauen Haare sind kurzgeschnitten, die Brille ist randlos und die »Präsent 20«-Anzüge längst in der Kleidersammlung verschwunden.

Der Rahmen für seine Buchpräsentation ist angemessen gewählt: Durch den holzvertäfelten Saal der ansonsten längst geschlossenen »Möwe« weht noch einmal ein Hauch von Geschichte, so schwer wie die roten Samtvorhänge.

Eine lange Geschichte habe auch sein Buch, erzählt Manfred Gerlach. Es besteht zum Teil aus einem Manuskript, das er schon 1979 veröffentlichen wollte, aber damals nicht durfte. Von wegen »mein Freund Erich Honecker«: Dem habe seine liberale Haltung schon damals nicht gepaßt, und er, Manfred Gerlach, sei seinerzeit wohl nur aus Rücksicht auf das Ausland nicht gekippt worden.

In Kurzform referiert er noch einmal seinen »ambivalenten Lebenslauf« als Sozialist und kritischer Reformer, als Täter und Opfer, was die Qualität seines Buches ausmachen soll: Er stelle sich seiner Mitverantwortung.

Das schindete zunächst Eindruck bei der versammelten Jounaille. Die lauscht ergriffen — fast wie in alten Zeiten. Doch die sind vorbei, damit auch die Schonzeit für Manfred Gerlach. Bei seinen acht Thesen für Deutschland muß selbst der Ostler lachen, und die anschließende Befragung gerät fast zum Verhör. Jetzt, wo er es endlich mal ehrlich meint, da nimmt ihn keiner mehr ernst: Die LDPD als Hort der Freiheit in der DDR — mehr und mehr weicht die Souveränität der Verbissenheit. Dabei sagt er auch ganz kluge Dinge, zum Beispiel, daß dieser Biermann mittlerweile den gleichen Kurs fahre wie Honecker, die Geschichte nicht wahrhaben wolle. Bei ihm ist es genau andersrum. Ihn will die Geschichte nicht mehr haben. Er steht allein auf weiter Flur: Die alte Nomenklatura ist verschwunden, die FDP distanziert sich von ihm. Und solange sich seine Mitverantwortung nicht in ein spektakuläres Strafverfahren ummünzen läßt, interessiert sie keinen mehr: Der Aktivist der ersten Stunde geht einsam in die letzte Runde. Im allgemeinen Aufbruch verkündet er noch, die Liberalen in der DDR seien keine Kommunisten gewesen, sondern anders. Was soll's noch? Damals waren sie gleich, im nachhinein nicht anders genug, also typisch liberal und sowieso viel zu weit von dem wahren Machtzentrum entfernt: Enthüllungen gibt es keine, da heißt es warten — auf Schalk-Golodkowskis »Für eine Handvoll Dollars mehr«. Lutz Ehrlich