Mehr als nur ein Dach über dem Kopf

Kreuzberg. Vielen BürgerInnen dieser Stadt steht mit sinkenden Temperaturen die härteste Zeit des Jahres bevor: Tausende von Obdachlosen suchen in diesen Tagen wieder ein Zimmer für den Winter. Allein in Kreuzberg sind 1.000 Leute ohne festen Wohnsitz in Pensionen untergebracht, weitere 400 übernachten in bezirklichen Einrichtungen. 50 Notaufnahmeplätze stellen die Kirchen im Winter zur Verfügung. Wie viele Kreuzberger sich von Nacht zu Nacht in dubiosen »Untermietsverhältnissen« durch den Kiez schlagen, ist unbekannt.

31 ehemals Obdachlose in 26 Wohnungen betreut die Arbeiterwohlfahrt in Kreuzberg mit ihrem »Betreuten Wohnprojekt«. Ihr Ziel ist die dauerhafte Unterbringung von alleinstehenden Obdachlosen mit regelmäßiger Betreuung. Denn wer länger ohne festen Wohnsitz war, braucht meist mehr als nur ein Dach über dem Kopf. »Obdachlosigkeit ist nicht nur pure Wohnungslosigkeit«, sagt die Leiterin Brigitte Scheidt. Zwischen Behördengängen und Bewerbungstraining arbeiten sie und ihr Kollege mit den Klienten auch psychische Probleme auf.

Die Kindheitserfahrungen der ehemals Obdachlosen gleichen sich oft: zerrüttete Familien, strukturelle und körperliche Gewalt, Mißhandlung, Heimkarrieren. Jeder dritte hat bereits versucht, sich umzubringen, über die Hälfte ist drogen-, alkohol- oder tablettenabhängig.

Die Kapazitäten des Betreuten Wohnprojekts sind nach drei Jahren an ihre Grenzen gelangt. Lediglich zwei Mitarbeiter und eine Verwaltungskraft betreuen 31 Leute zwischen 18 und 53 Jahren aus sieben verschiedenen Herkunftsländern. Außerdem wird es immer schwieriger, überhaupt Wohnungen zu finden. Zumindest daran wird sich möglicherweise bald etwas ändern: Nach einer Absprache mit dem Bausenator könne die Stadt möglicherweise demnächst mehr Belegungsrechte für soziale Dienste wahrnehmen, teilte Sozialsenatorin Ingrid Stahmer gestern mit.

Nun hofft das Betreute Wohnprojekt der AWO auf mehr Personal. Die finanziellen Argumente haben die Mitarbeiter auf ihrer Seite: 2.400 Mark kostet eine Pensionsunterbringung monatlich, eine eigene Wohnung etwa 300 bis 400 Mark. Und, so rechnen sie — auch die Personal- und Sachkosten für das Wohnprojekt mitgerechnet —, der Sozialsenat müßte das Vierfache aufbringen, um 31 Leute in Pensionen ohne jegliche Betreuung unterzubringen. jgo