Blutiger Streit um Frankreichs Aids-Politik

Durch Fahrlässigkeit bei Transfusionen wurden 460.000 Personen mit Hepatitis und HIV infiziert/ Protektionismus gegenüber dem Pariser Pasteur-Institut kostete viele das Leben/ Krankenkassen bezahlten nur das französische Testverfahren  ■ Von Thierry Chervel

Fast täglich enthüllen die Pariser Medien neue Skandale in der französischen Aids-Politik. Über 460.000 Personen, so meldete 'Le Monde‘ am Dienstag, seien in Frankreich bis zum Jahre 1989 durch Bluttransfusionen an verschiedenen Viren erkrankt. Die Zahl geht aus einem vertraulichen Bericht hervor, den der Leiter der französischen Transfusionsbehörde CNTS, Michel Garretta, im August 1989 an den damaligen Sozialminister Claude Evin adressierte und der 'Le Monde‘ letzte Woche zugespielt wurde. Nach Garrettas Hochrechnung sollen in den Jahren 1980 bis 1989 in der Folge von Bluttransfusionen 415.000 Personen von Hepatitis „Non-A, Non-B“ und der Hepatitis C, 45.000 Personen von Hepatitis B und 3.600 vom Aids- Virus HIV infiziert worden sein. Garretta bemerkte in dem Bericht, daß die meisten dieser Personen von ihrer Infektion nichts wüßten. Sehr oft sei ihnen nicht einmal bekannt, daß ihnen während einer Operation Blut gespendet wurde. Er schlug daraufhin vor, diese Blutempfänger zu informieren — ein Schritt zu dem sich die damalige Regierung unter Michel Rocard nicht entschließen mochte. Der Bevölkerung wurden Garrettas Schätzungen „aus Angst vor einer Panik in der Öffentlichkeit“ vorenthalten. Nur die praktizierenden Ärzte erhielten eine Broschüre, in der empfohlen wird, Operierten, wenn möglich, eigenes Blut zu verabreichen, das ihnen vorher abgenommen wurde.

Die Veröffentlichung in 'Le Monde‘ hat inzwischen zu scharfen Reaktionen geführt. Es sei unzulässig, so der heutige Sozialminister Bianco vorgestern bei der Beratung seines Budgets im Parlament, „die französische Bevölkerung in Schrecken zu versetzen und zu unterstellen, daß 400.000 Personen von Hepatitis-Viren infiziert sind. In Wirklichkeit sind es viel weniger. Außerdem hat Hepatitis nichts mit Aids zu tun, auch wenn sie manchmal gefährlich sein kann.“ Bianco bezweifelt Garrettas Zahlenwerk — und das, obwohl es von seinem Amtsvorgänger in Auftrag gegeben worden war und obwohl es von unabhängigen Epidimiologen für realistisch erklärt wurde. In einem sehr französischen Presseverständnis schloß Bianco seine Redepassage über das Problem der Bluttransfusionen mit der „Aufforderung an die Journalisten, Herausgeber und Politiker, keine weiteren alarmierenden Neuigkeiten zu veröffentlichen“. Es ist zu vermuten, daß Bianco die Entschädigungsforderungen HIV-infizierter Transfusionspatienten fürchtet, die Regierung hat schon genug mit den Klagen von Bluterkranken zu tun.

„Alle Blutkonserven sind verseucht“

Da das französische Bluttransfusionswesen rein staatlich organisiert ist und direkt dem Gesundheitsministerium untersteht, sehen sich durch die Presseveröffentlichungen hohe Ministerialbeamte und Politiker in der Schußlinie. Am Mittwoch erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Garretta und zwei weitere ehemalige hohe Beamte der Gesundheitsbürokratie — allerdings wegen eines anderen Skandals. Ihnen wird vorgeworfen, in den Jahren 1984 und 85 wissentlich HIV-infiziertes Blutplasma an Bluterkranke verteilt zu haben — die taz berichtete darüber am 8. Mai. Die Zeitschrift 'L'Evenement du jeudi‘ hatte im Mai einen behördeninternen Bericht Garrettas von 1985 veröffentlicht, in dem er feststellt, „daß alle unsere Blutkonserven verseucht sind“, denn für einen Liter Blutplasma sind Tausende von Spendern nötig. Wenn ein einziger von ihnen infiziert war, ist die Konserve unbrauchbar.

Zu diesem Zeitpunkt aber hätte Garrettas Transfusionsbehörde längst unschädlich gemachte Konserven verteilen können. Schon Mitte 1983 bot die amerikanische Firma Baxter-Travenol ein Präparat an, in dem der Aids-Virus durch Erhitzung abgetötet werden kann. Spätestens im Mai 1984 wurde diese Möglichkeit der Erhitzung der Konserven bei einem Symposium des US-amerikanischen Roten Kreuzes einer breiten Fachöffentlichkeit bekannt. So wie in Deutschland, wo es noch bis weit ins Jahr 1986 hinein verseuchte Präparate aus Restbeständen gab — eine konzertierte Rückrufaktion von nicht erhitzten Konserven wurde in der Bundesrepublik unterlassen — reagierte die Administration auch in Frankreich skandalös langsam: Erst am 23. Juli 1985 beschloß die damalige Sozialministerin unter dem Mitterrand-Intimus Laurent Fabius, Georgina Dufoix, daß die Kosten für nicht erhitzte Blut-Präparate mit Wirkung vom 1. Oktober 1985 nicht mehr erstattet werden sollen. In Frankreich gibt es etwa 2.500 Bluter, 1.200 davon sind Aids-infiziert, von denen wiederum fünfzig unwissentlich ihre Partner infizierten. 200 französische Bluterkranke sind seit der Entdeckung der Krankheit an Aids gestorben. Georgina Dufoix ist heute die Vorsitzende des französischen Roten Kreuzes.

Dufoix war auch eine der Verantwortlichen beim Skandal um die französische Aids-Test-Praxis in den Jahren 1985/86, den ebenfalls 'Le Monde‘ am letzten Samstag aufgedeckt hat. Danach habe die französische Regierung aus Protektionismus eine optimale und schnelle Feststellung von Aids-Infektionen verzögert.

„Böses Blut“ auch in der Bundesrepublik

Die Zeitung zitiert ein in Dufoix' Namen verfaßtes Sitzungsprotokoll einer interministeriellen Arbeitsgruppe vom 22. Juli 1985. Die Arbeitsgruppe erklärt darin zu ihrem „Ziel“, daß dem gerade entwickelten Aids-Test-Verfahren der Firma Diagnostics Pasteur „ein nationaler Marktanteil von 35 Prozent“ gesichert wird. Der Preis für einen Test der Firma solle „ausreichend sein, um der Firma einen Zugang zu internationalen Märkten zu ermöglichen“.

Durch „technische Bestimmungen“ , so 'Le Monde‘, wurde in der Folge erreicht, daß die Krankenkassen nur die Aids-Tests der französischen Firma Diagnostics Pasteur in voller Höhe übernahmen, während Tests nach konkurrierenden amerikanischen Verfahren von den Patienten selbst zu bezahlen waren.

Diagnostics Pasteur aber hatte zu dieser Zeit noch gar nicht die Kapazität, um die Nachfrage nach Aids- Tests in Frankreich vollständig zu befriedigen. Das führte dazu, daß Patienten, die in Privatlabors ihr Blut untersuchen lassen wollten, damit rechnen mußten, 400 Francs in Rechnung gestellt zu bekommen. Zugleich verhinderte diese Politik auch die Schaffung kostenloser und anonymer Aids-Test-Zentren und bewirkte, daß sich gefährdete Personen an Blutspende-Zentren wandten, um ihren HIV-Status zu erfahren. Dadurch wurden viele Blutkonserven mit HIV verseucht. Durch den Aids-Test können nämlich nur Antikörper nachgewiesen werden, die sich aber erst mehrere Tage und Wochen nach der Infektion bilden. Bei frischen Infektionen, wo noch keine Antikörper vorhanden sind, passierten die Blutspenden folglich als „HIV-negativ“ die Kontrollen und infizierten dann die Blutempfänger.

Erst im Februar 1987 entschied sich die Regierung Chirac, alle Aids- Tests gleich zu behandeln. Die 1985 und 1986 zuständigen Minister sind zur Zeit „alle nicht zu erreichen“, berichtet der 'Canard Enchaine‘.

In der Bundesrepublik sind die schweren Versäumnisse im Umgang mit Blutkonserven und Blutprodukten bisher nur wenig beachtet worden. Irene Meichsener und Egmont Koch haben in ihrem Buch Böses Blut (Hoffmann und Campe) die Geschichte der bundesdeutschen Schlafmützigkeit und Ignoranz gegenüber den amerikanischen Warnungen vor verseuchten Blutprodukten eindrucksvoll nachgezeichnet. Durch eine frühzeitige Reaktion des Bundesgesundheitsamtes, des Roten Kreuzes und der Blutpäpste in den Kliniken hätten viele Hundert Bluter gerettet werden können.