Krebs verlernen?

■ Christa Wolf sprach über „Krebs und Gesellschaft“ / 2.Bremer Krebskongreß

Sie hat selbst einmal an der Grenze gestanden, wo es zum Tod nur noch ein Schritt ist. Sie kennt die Verzweiflung von FreundInnen und Verwandten beim Lesen medizinischer Befunde, das Auf und Ab des Krankheitsverlaufes. Krebs verändert die Beziehungen zwischen Menschen. Gerade deshalb wollte Christa Wolf provozieren, vor rund 500 ZuhörerInnen im Marriot-Hotel. Anläßlich des 2.Bremer Krebskongresses '91 forderte die Berliner Schriftstellerin am Donnerstag Abend „neues Denken“, auch in der Medizin. Christa Wolf zitierte Schriftsteller, Ärzte und Philosophen und stellte die traditionelle Medizin in Frage. Eigene Lösungen konnte und wollte sie nicht präsentieren.

Ein Sammelsurium von Gedankenfetzen und Fragen. Wie diese: Was blockiert uns, den direkten Weg zwischen Wissen und Einsicht zu gehen, zum Beispiel in der Atomenergie oder in unserem Suchtverhalten? Warum können wir die Wahrheit der Krankheit und ihrer Ursachen nicht ertragen? Und was ist das überhaupt: die Wahrheit, wenn es um Krebs geht?

In Christa Wolfs autobiografischem Buch „Christa T.“ stirbt eine junge Frau — verheiratet, Kinder, gut situiert — an Blutkrebs. Sie stirbt an der Krankheit, aber auch an den Verhältnissen der Gesellschaft, die sie umgibt. Die Schriftstellerin Maxi Wander, eine Freundin von Christa Wolf, beschreibt den Krankheitszustand in einem Buch so: „An Krebs zu denken ist, als wäre man in einem Zimmer mit einem Mörder eingesperrt. Man weiß nicht genau wann und wie er angreifen wird.“

Ein krebskranker englischer Junge schrieb Christa Wolf vor kurzem eine Karte. Er weiß, ihm bleibt nur noch wenig Zeit. Sein letzter Wunsch: Er möchte Postkarten aus aller Welt erhalten, nach dem Schneeballprinzip, um in das Guinness Buch der Rekorde zu kommen. Christa Wolf antwortet dem Jungen, gibt aber seine Adresse nicht weiter. Ihre Gefühle seinem Wunsch gegenüber: „Beklemmung und Scham. Wie konnte das sein letzter Wunsch sein? Nicht Zuwendung ist ihm wichtig, sondern eine abstrakte Zahl.“

Abwehr, Verleugnen, Abschotten, solange wie möglich, das ist „der Wahnsinn der Normalität“ (Arno Grün), in der wir leben. Viel zu selten werde die Krankheit als Chance, als Anstoß zum Denken, „über unsere Rolle und diese Gesellschaft“ genutzt. Vielleicht, so Christa Wolf, ist ja Krebs nichts anderes als langsame Selbstzerstörung? Ein Tribut an die Widersprüche unseres Lebens? Etwa so: „Das ganze Leid, was sich angestaut hat, explodiert und zerstört damit den Körper.“

Die hilflosen Reaktionen der heutigen Medizin, so Wolf, „führen uns nicht zu unseren Widersprüchen, sondern von uns weg“. Sie zerlegen uns in zu bestrahlende Einzelteile. Die Persönlichkeit wird auf Brust, Lunge, Niere oder Prostata reduziert. Natur wird zerschnitten, Fachsprache übertönt die Stille, die wir brauchen, um unseren Körper zu hören.

„Der höchste Grad der Arznei ist die Liebe“, war noch die Auffassung von Paracelsus, dem berühmten Arzt und Naturforscher im 16. Jahrhundert. Christa Wolf wagt einen ähnlich kühnen Gedanken: „Vielleicht hat man Krebs nur, wenn man es weiß — und kann es wieder verlernen.“

bz