Auf die innere Freiheit kommt es an

Zhang Xian-Ling — 30 Jahre Schreiben in China  ■ Von John Gittings

Zhang Xian-Ling ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Romanciers Chinas. Sein gesamtes Oeuvre ist inspiriert und überschattet von den insgesamt 22 Jahren, die der Schriftsteller in Arbeitslagern und auf Staatsgütern verbracht hat. In diesem Gespräch beschreibt er das erste Mal die tragikomischen Umstände, unter denen er ursprünglich aus Peking verbannt wurde, die Auswirkungen seiner Gefängnishaft und seine Ansichten über das Schreiben.

Sein berühmtester Roman in China und im Ausland ist Die Hälfte des Mannes ist die Frau (deutsch 1989), in dem er die Thematik der sexuellen und politischen Unterdrückung miteinander verbunden hat. Zhang Xian-Ling steht mehr oder weniger außerhalb der Pekinger Literaturszene, da er seit 35 Jahren in seinem ursprünglichen Verbannungsort in der nordwestlichen Region von Ningxia lebt. Sein jüngster Roman Sich ans Sterben gewöhnen ist in einigen Presseartikeln in China bereits heftig angegriffen worden. Zhangs Arbeiten sind zwar nicht dezidiert verboten, jedoch reden sich die Verlage in Reaktion auf die neue konservative Atmosphäre zunehmend wieder auf Papierknappheit heraus. Wie viele chinesische Schriftsteller heute schreibt auch Zhang Xian-Ling jetzt für die Schublade — frei und unfrei zugleich.

„Ich bin im Dezember 1936 in eine Beamtenfamilie in Nanjing hineingeboren worden. Nach der Befreiung von 1949 kam mein Vater wegen seiner falschen Klassenzugehörigkeit ins Gefängnis, und unser Besitz wurde konfisziert. 1954 stand ich in Peking gerade kurz vor dem Schulabschluß [etwa mittlerer Reife entsprechend, A.d.Ü.], als wir durch die ,Loyal-und-ehrlich‘-Kampagne geschleust wurden. Die Frage der Klassenzugehörigkeit war da von außerordentlich großer Bedeutung, denn nach dem Schulabschluß wurde man mit Partei- oder Regierungsstipendien zur höheren Ausbildung zugelassen oder eben nicht. Sie wollten natürlich sehen, ob man sich ihrer Unterstützung würdig zeigte. Ich berichtete also den Schulbehörden aufrichtig und wahrhaftig über meine Familie. Dabei gab ich zu, daß es mir immer noch sehr schwer fiel, meine veränderte Familiensituation zu akzeptieren. Aber alles in allem war ich ein glühender Bewunderer der Kommunistischen Partei, denn ich war der Meinung, daß die Kommunistische Partei China und unser Volk gerettet hatte. Obwohl ich als Individuum gelitten hatte, meinte ich doch, daß Volk und Land hoffnungsvoll in die Zukunft sehen könnten. Wer konnte schon ahnen, daß das Resultat meiner Ehrlichkeit mein Schulrausschmiß sein würde! Sie sagten nicht: ,Das, was du denkst, ist falsch.‘ Ihr Alibi war, daß ich ,Gegenstände gestohlen‘ hätte. Aus den Schulschlafsälen verschwanden sehr oft alle möglichen Dinge, Bleistifte, Briefmarken, Briefe, Jacken, Schuhe, Socken... Die Lehrer meinten, daß Schüler der ,guten‘ Klassen nicht gestohlen haben konnten; also mußten die der ,schlechten‘ Klasse Diebe sein. Einer der Lehrer redete mit mir und sagte: ,Hör mal, das und das ist verschwunden; wenn du nur zugibst, gestohlen zu haben, dann ist das damit erledigt. Schreib' eine Selbstkritik, und der Abschluß ist dir sicher.‘ Zwei-, dreimal am Tag redeten sie so auf mich ein, und am Schluß war ich ziemlich durcheinander. Ich dachte, das ist doch wirklich nicht die Welt. Wenn ich gestehe, dann habe ich doch trotzdem die Sachen nicht wirklich gestohlen; ich werde es zugeben, und damit hat die Sache ein Ende. Stellen Sie sich vor, ein Siebzehnjähriger! Ich dachte wirklich, daß nichts weiter passieren würde. Natürlich wurde ich sofort rausgeschmissen.

1955 suchte man im Nordwesten des Landes Studenten. Jeder, der in Peking keine Arbeit fand, aus der falschen Klasse stammte oder sonstwie Schwierigkeiten hatte, sein Geld zu verdienen, wurde in den Nordwesten geschickt. Ich kam also nach Ningxia. Zuerst verbrachte ich ein Jahr auf dem Land als Landarbeiter; 1956 kam ich auf eine Kaderschule, um dort als Lehrer zu unterrichten. Damals war die Bildungssituation ziemlich katastrophal, und sie fanden hier nur schwer Lehrer. Als also diese große Gruppe aus der Stadt ankam, wurde jeder, der auch nur eine mittlere Schulausbildung hatte, als Lehrer angeheuert.“

Zhang hatte schon als Dreizehnjähriger angefangen zu schreiben und ab 1950 mehrere Gedichte und Aufsätze veröffentlicht. Von der Bewegung „Laßt hundert Blumen blühen“ (1956/57) angespornt, schrieb Zhang ein langes Gedicht im romantisch-revolutionären Stil mit dem Titel Der große Wind, Gewidmet dem großen Schöpfer aller Dinge und Kultur. Es beginnt mit den folgenden Zeilen:

Zhang reichte das Gedicht bei einer Literaturzeitschrift im Nordwesten ein und erklärte in einem beigelegten Brief, daß er darin über die „aufrichtige Leidenschaft zur Revolution“ spreche, um das neue Zeitalter zu begrüßen und seinen Freunden Mut zu machen. Die Zeitschrift veröffentlichte das Gedicht, geriet jedoch im Zuge der „Anti-Rechts“- Kampagne, die den „Hundert Blumen“ folgte, in Panik und denunzierte das Werk als antisozialistisch. Die wahre Intention des Gedichtes, so hieß es, sei es gewesen, den Sozialismus zu „entwurzeln“ und „hinwegzufegen“. Auch in der offiziellen Parteizeitung in Peking griff man den Großen Wind heftig an.

„1957 schrieb ich ein Gedicht mit dem Titel Da Feng Ge, das zufällig zur Zeit der Anti-Rechts-Kampagne herauskam; also sagte man, es sei ein antisozialistisches Gedicht und gegen die Partei gerichtet. Aber auch wenn ich das Gedicht gar nicht geschrieben hätte, wäre ich mit diesem Etikett wohl versehen worden — einfach wegen meiner Klassenherkunft. Im darauffolgenden Jahr kam ich zur Umerziehung ins Arbeitslager, zusammen mit Hunderttausenden anderer ,Rechter‘. Nur wurde ich, wann immer eine neue Kampagne angesagt war, wieder herausgefischt als Sündenbock; denn der Artikel, der ursprünglich dieses Gedicht angegriffen hatte, war auch in der 'Volkszeitung‘ nachgedruckt worden, der mächtigsten und einflußreichsten Zeitung des Landes. In dieser kleinen Stadt war mein Name immer der erste, der dran war. Sie schoben immer alles auf die 'Volkszeitung‘: Die haben dich kritisiert, sagte man. Also war ich erst ein ,Rechter‘, dann ein ,Konterrevolutionär‘ und schließlich ein ,konterrevolutionärer Revisionist‘. Vom Arbeitslager kam ich in die Landwirtschaft und von da wieder zurück ins Arbeitslager — dann wurde ich entlassen, als nächstes ins Gefängnis gesperrt, und während der Kulturrevolution geriet ich unter die ,Bewachung durch die Massen‘. Das waren zusammengenommen 22 Jahre. Der Mann, der damals diesen Artikel in der 'Volkszeitung‘ schrieb (bitte nennen Sie seinen Namen nicht, er lebt und schreibt noch), wurde später auch als ,Rechter‘ bezeichnet, und zwar nur zwei Monate nach der Veröffentlichung des Artikels. Auch er entkam ihnen nicht — trotz allem.

1979 wurde ich offiziell rehabilitiert und ging im September 1980 nach Yinchuan. Dort nahm ich meine Arbeit als Redakteur auf und begann wieder zu schreiben.“

Zhang ist nur einer von vielen chinesischen Intellektuellen, die zwei Jahrzehnte ihres Lebens durch die „Anti-Rechts“-Kampagne verloren. Aber er war jünger als die meisten, als er zur Umerziehung geschickt wurde, und er trug ein schlimmeres Stigma. Anders als viele andere konnte er in den Phasen relativer politischer Entspannung nicht zu einem halbwegs normalen Leben zurückkehren. Sein Schicksal wäre in einem anderen Teil Chinas vielleicht einfacher gewesen, vor allem dort, wo mehr und ältere Intellektuelle lebten, die überall das Schlimmste abkriegten. Auch das Leben im Lager und in der Landwirtschaft war ungewöhnlich hart. Der Grund dafür war nicht etwa eine besonders brutale Behandlung der Gefangenen, sondern die Armut in der Provinz Ningxia selbst, die unter der Politik des „Großen Sprung Vorwärts“ böse gelitten hatte. Einmal geschah es, daß Zhang totgeglaubt liegengelassen wurde — eine Episode, die in seinen Schriften immer wieder auftaucht. Dennoch muß betont werden, daß es hier wesentlich weniger mutwillige Mißhandlung der politischen Gefangenen gab als in den sowjetischen Gulags. Und ebensowenig gab es unter den Gefangenen eine bewußte Gegenkultur, da viele von ihnen weiterhin an die Partei und den Sozialismus glaubten. Zhang betrachtet wie viele Opfer dieser Zeit die Erfahrung von damals heute eher philosophisch.

„Ich beschwere mich über niemanden. Natürlich bin auch ich durch solche Phasen gegangen, durch Traurigkeit, wenn es traurig war und durch Freude, denn wenn man nicht genug davon hat, an was sonst soll man da denken können? Zwanzig Jahre lang waren das die wesentlichen Gedanken: Ist genug Essen da und genug Kleidung, damit man nicht fror. Ich war ganz gut im Schneidern und konnte aus einem Stück Tuch eine Hose machen. Zu lesen kriegten wir nur Zitate von Mao, etwas Marx und Engels und manchmal die lokalen Zeitungen.

Ich wurde fünfmal hin und her geschickt, vom Arbeitslager zum regulären Staatsgut und wieder zurück. Die Arbeit war immer dieselbe, eben Landarbeit, aber auf dem Gut war es für mich schlimmer. Denn im Lager waren wir Gefangene alle zusammen. Und auf dem Gut sahen die Bauern auf uns herab, sie gaben mir immer die schmutzigste Arbeit. Mancher hatte Mitleid, aber helfen konnten sie uns auch nicht. Mitleid mit ihnen hatte ich nicht — warum auch? Sie hatten ihre Familien. Tagsüber arbeiteten sie vielleicht genauso hart wie ich, aber abends konnten sie nach Hause zu Frau und Kindern gehen. Wenn es ihnen schlecht ging, konnten sie ihre Frauen schlagen, und wenn es ihnen gut ging, machten sie Sex (Xian-Ling benutzt das englische Wort im Original). Deshalb haben wir so viele Kinder in China!

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Also: Wessen Situation war schlimmer? Unser Arbeitslager hatte einiges mit dem sowjetischen Gulag gemein, in anderen Punkten unterschied es sich. Die Behörde für ,öffentliche Sicherheit‘ die für uns zuständig war, hatte vor allem ein Interesse daran, daß wir kräftig arbeiteten und keinen Ärger machten. Es gibt auch andere Gründe. Wir waren alles Intellektuelle, die nicht gegen die Partei waren und ganz ehrlich den Sozialismus wünschten. Insofern hatten wir ein eher positives Verhältnis zur Umerziehung. Wir brauchten keinen, der mit dem Gewehr hinter uns stand. Oftmals hatten wir ein wesentlich klareres Verständnis davon, was Unterstützung von Sozialismus und Partei hieß, als diejenigen, die uns zu beaufsichtigen hatten. Das nennt man bei uns zijue, bewußt sein. Einmal versuchte ich abzuhauen, aber nur, weil ich hungrig war, und nicht etwa aus ideologischen Gründen. Selbstmord war hier kein politisches Zeichen des Widerstandes, sondern nur Pessimismus über die eigene persönliche Zukunft.

Damals war ganz China wie ein Baby, das an der Mutterbrust liegt. Es ist erst spät groß geworden und braucht jetzt keine Amme mehr.“

Zhangs längere Arbeiten beschäftigen sich seit seiner Rehabilitierung alle mit der Erfahrung des laogai, der Umerziehung durch Arbeit. Sein erster Roman, Mimosa (Panda Books, Peking 1984), beginnt mit der Entlassung der Hauptfigur Zhang Yonglin im Jahr 1961. Eine Witwe freundet sich mit ihm an, die ihn mit gutem Essen wieder zu Kräften bringt. Einen Tag nach ihrer Entscheidung zu heiraten wird er ohne Vorwarnung versetzt, während einer neuen politischen Kampagne verhaftet und erneut verurteilt. Die beiden sehen sich nie wieder.— Zhang ist auch in seinem zweiten Roman Die Hälfte des Mannes ist die Frau (1985) Hauptfigur und Ich-Erzähler. Der Faden wird zehn Jahre später wieder aufgenommen. Zhang ist vom Lager gerade zur Arbeit auf einem Staatsgut entlassen worden und trifft dort eine Frau, die er als Gefangene im Lager einmal nackt gesehen hat. Nach ihrer Heirat entdeckt Zhang, daß er impotent geworden ist. Zwar kann er am Ende doch die Ehe mit ihr vollziehen, beschließt jedoch, sie wieder zu verlassen und auf Wanderschaft zu gehen, wobei er das Chaos ausnutzt, das das Land schon während Maos Totenbettes ergriffen hat. In seinem neuen Roman Sich ans Sterben gewöhnen (1989) verwebt er die schrecklichen Erinnerungen eines Exgefangenen — an eine Scheinhinrichtung zum Beispiel und die Erfahrung, für tot gehalten zu werden — mit den Erinnerungen eines im Ausland reisenden chinesischen Schriftstellers, der sich an seine Affären erinnert. Im Westen hat sich die Kritik auf Zhangs offenbaren Gebrauch von Sexualität als Metapher für politischen Kampf und psychisches Trauma konzentriert. In China jedoch ist seine Popularität sehr viel direkter mit den expliziten Beschreibungen dieser so wesentlichen — und tabuisierten — menschlichen Sphäre in Beziehung gebracht worden. Abgesehen hiervon sollte man wissen, daß Zhang lebendig schreibt, oft lyrisch und witzig dazu; die Kraft seiner Imagination und Menschlichkeit rechtfertigt völlig seine Aufnahme beispielsweise in die Penguin-Reihe „Internationale Schriftsteller“. Zhang weist die üblichen Zuordnungen für sich zurück: er versteht sich weder als „Lagerdichter“ noch als „Sexschriftsteller“.

„Natürlich ist es so, daß ich im Gefängnis sehr viele Erfahrungen gemacht habe, vielleicht mehr als andere, die ein normaleres Leben geführt haben. Ob jemand Schriftsteller wird oder nicht, hängt aber nicht davon ab, wie viele Erfahrungen er selber gemacht hat, es hilft ihm höchstens, die gesamte Erfahrung der Menschheitsgeschichte zu aktivieren. Alles ist da, von der Sintflut bis zum Kaiser Chin Shihuangdi und dem Hundertjährigen Krieg. Engels hat gesagt, daß wir vom Affen abstammten — wie viele tausend Jahre hat das wohl gebraucht?

Das Gedächtnis ist wie eine kleine Zelle, die über Tausende von Jahren wächst und schließlich eine Art Depot im Geist formt. Der größte Künstler ist derjenige, dessen Imagination durch Erfahrung stimuliert einen sehr großen Teil dieses Gedächtnisses aktivieren kann. Könnte er alles wieder zum Leben bringen, wäre er ein großer Weiser!

Ich hatte nie einen bestimmten Plan, mit dem ich eine ganz bestimmte Bedeutung nur in dieser oder jener Form hätte ausdrücken wollen. Im Unterschied zu vielen anderen Schriftstellern hatte ich den Vorteil, zweiundzwanzig Jahre von aller Literatur und literarischen Theorien abgeschnitten zu sein — in einem Test über Literaturtheorie würde ich heute wahrscheinlich durchfallen! Diese zweiundzwanzig Jahre waren außerdem auch völlig anders als die zwanzig Jahre davor; alles war völlig neu und stimulierte deshalb meine Kreativität in besonderem Maße.

Obwohl ich also nie einen Plan hatte, muß man folgendes sehen: alle drei Romane von mir handeln von den wesentlichen menschlichen Bedürfnissen. InMimosa geht es ums Essen, Die Hälfte des Mannes... beschäftigt sich mit der Sexualität, und Sich ans Sterben gewöhnen behandelt den Tod. Gibt es etwas, was größer ist als diese drei Themen? Wie Konfuzius sagt: Essen und Sex liegen in der menschlichen Natur, und der Tod folgt ebenso natürlich.

Ich schreibe keine politischen Bücher. Wer etwas über das kommunistische China wissen will, kann die Bücher ausländischer Korrespondenten lesen oder Nien Chengs Leben und Tod in Shanghai.

Mein nächster Roman? Das kann ich noch nicht so genau sagen, aber ich habe schon das Material. Es ist das rudimentäre Tagebuch, das ich 1960 führte, mit solchen Tageseintragungen wie: ,Heute sammelte ich Stroh, gestern pflanzte ich Reis, vorgestern fegte ich den Hof und besorgte die Pferde.‘ Ob es genug Material ist? Ja, natürlich. Ich wurde durch Arbeit umerzogen. Also muß genug Material da sein.“

Durch die Entscheidung, in seinem Exilort in Ningxia zu bleiben, hat sich Zhang Xian-Ling außerhalb des Literaturbetriebs in Peking gestellt. Er verdient sein Geld als Direktor der Kulturvereinigung von Ningxia und wurde im Laufe des Tauwetters der frühen Achtziger sofort berühmt. Drei nationale Preise wurden ihm zuerkannt. Später wurde der Roman Die Hälfte des Mannes ist die Frau für seinen sexuellen Inhalt kritisiert, teilweise, weil die Veröffentlichung wieder einmal mit einer Kampagne zusammenfiel, der Kampagne gegen „geistige Verschmutzung“ im Winter 1985. Glücklicherweise gelang es ihm, seinen neuen Roman zu publizieren, bevor sich der politische Wind nach dem Massaker in Peking wieder drehte. Zhang ist oft dafür kritisiert worden, daß er den offenen Konflikt mit den politischen Autoritäten vermeidet. Eine neue Veröffentlichung im Westen, der Sammelband Seeds of Fire (herausgegeben von Geremie Barmé und John Minford), behandelt Zhang mit extremer Feindlichkeit und wirft ihm vor, er habe 1986 die offizielle Linie gegen die „bourgeoise Liberalisierung“ unterstützt.

Zhang selbst hat sich seit dem Tiananmen-Massaker nicht öffentlich geäußert, jedoch ist sein neuer Roman bereits heftig kritisiert worden (siehe Kasten). Keiner seiner Romane ist zur Zeit in Druck, obwohl sicher eine Auflage von mehreren hunderttausend einen Markt finden würde, denn gute Literatur ist zur Zeit kaum zu haben. Zhang erklärt seine Haltung zur Politik mit folgenden Worten:

„Wie ist es möglich, daß ich schreiben konnte, obwohl es in China für Schriftsteller so viele Restriktionen gibt? Der Grund ist, daß die äußeren Restriktionen nicht der entscheidende Faktor sind. Um zu schreiben, braucht man innere Freiheit. Politik kann einen an der Veröffentlichung hindern, nicht aber am Schreiben. Das ist keine Frage des Muts. In China hängt die Literatur notwendig mit der Politik zusammen. Aber obwohl ich Mitglied der Kommunistischen Partei bin und lokaler Literaturfunktionär, habe ich mir diese innere Freiheit erhalten. Das sind sehr gute Bedingungen, um schreiben zu können, und daher habe ich keine Ambitionen, die Gesetze meines Landes zu verletzen und wieder Ärger zu kriegen. Es besteht kein Widerspruch zwischen dem Erhalt der inneren Freiheit und dem Akzeptieren des gesetzlichen Rahmens der Gesellschaft. Ich weiß außerdem, daß ich inzwischen nicht mehr selbst bestimme, wie weit ich gehen und welches künstlerische Niveau ich erreichen kann. Das hat sich bei meiner Geburt schon entschieden. Ich bin kaum jemals so voll Wut wie Solschenizyn gewesen. Er arbeitet mit Gefühlen. Ich versuche, die Seele auszudrücken.“

Zhang Xian-Liang: Die Hälfte des Mannes ist die Frau, Limes Verlag, München 1989, 34DM

Getting used to Dying, Collins, London.

Hier komme ich, bin kurz vor

der Ankunft und werfe

mich dort, wo die letzten

gepflügten Äcker den Dschungel berühren

aus den Mündern vorrückender Blasebälger

...

Ich bin schon nahe, aufgewühlt

vom Marsch der Sechs-

Hundert Millionen — Ich komme! — über

die Baumkronen, die werden durch

mich ein donnerndes Meer von Wogen

und peitschen die träumenden Berge

und Flüsse in Aktion

...

Ich reiße die Armut aus wie tote Ulmen,

fege, wie Wolken, das Dunkel hinweg,

trage Steine und Sand und gelbe Erde

und töte, was verrottet ist.

....

Hört, in meinem Pfeifen hört den Klang von

Metall,

Botschaft von schrecklichem Wandel.

John Gittings ist Mitarbeiter des Londoner 'Guardian‘ und Autor des Buches „The Road From Revolution“ (Oxford Paperbacks, 1990)