Caesarismus, Erzählung

Über Alan Bullocks Doppelbiographie  ■ Von Peter Reichel

Hitler und Stalin mögen als die größten Staatsverbrecher der neueren Geschichte gelten, als Personifizierung des Bösen überhaupt. Sie sind zugleich die beiden herausragenden Führerfiguren totalitärer Bewegungsregime des 20.Jahrhunderts. Beide haben mit exzessivem Terror geherrscht und unermeßliches Leid über Millionen Menschen gebracht. Beide nehmen seitdem einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschheit ein. Beide sind bereits mehrfach Gegenstand von Biographien gewesen. Kann man, muß man ihre Lebensgeschichten auch noch miteinander vergleichen? Der englische Historiker Alan Bullock hat sich diese Aufgabe gestellt und jetzt eine in ihrer Materialfülle und Detailbesessenheit gewiß imposante, über tausendseitige Doppelbiographie vorgelegt.

Einen forschungsgeschichtlichen Rück- oder Überblick, eine gedanklich gehaltvolle Einführung, Überlegungen etwa zu den Kontroversen um das Hitler-Bild oder über das Verhältnis von Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte sucht man jedoch vergeblich. Bullock dürfte bei seiner Arbeit weniger an eine spöttische Warnung von Marx gedacht haben als an ein pathetisches Bekenntnis von Hegel, das er auch zitiert.

Im Vorwort zur zweiten Auflage seines 18.Brumaire attackiert Marx jene mit bissiger Ironie, die Caesar und Napoleon Bonaparte in einer — auf das Heldenhafte fixierten — „oberflächlichen geschichtlichen Analogie“ unter die „landläufige Schulphrase vom sogenannten Caesarismus“ subsumieren und dabei die „Hauptsache“ vergessen: die „gänzliche Verschiedenheit zwischen den materiellen [...] Bedingungen des antiken und des modernen Klassenkampfes“. Mehr als dreißig Jahre zuvor schrieb Hegel — wohl im Vertrauen darauf, daß der Weltgeist schon die richtigen Hauptcharaktere findet — über die Rolle von Caesar und Napoleon: „Sie waren praktische und politische Menschen. Aber zugleich waren sie denkende, die die Einsicht hatten von dem, was not tut und was an der Zeit ist [...] Die Litanei von Privattugenden der Bescheidenheit, Menschenliebe und Mildtätigkeit muß nicht gegen sie erhoben werden [...] Solch große Gestalt muß manche unschuldige Blume zertreten, manches zertrümmern auf ihrem Wege.“

Das mögen wohl auch Hitler und Stalin geglaubt haben. Und eben dies: der — paranoide — Glaube an ihre weltgeschichtliche Mission sei, so Bullock, „die beste Grundlage für den Vergleich der beiden Männer“. Doch wozu dieser Vergleich? Welche Erkenntnis könnte aus ihm gewonnen werden, die nicht schon die Einzelbiographien zu Tage gefördert hätten? Bullock selbst hat vor fast vierzig Jahren bereits eine vielgerühmte Hitler-Biographie geschrieben, die allerdings auch zur Dämonisierung des Hitler-Bildes beitrug und damit — freilich unter anderen Vorzeichen — den Führer-Mythos fortschrieb.

Ist nicht zu befürchten, daß ein solcher Vergleich einmal mehr Wasser auf die Mühlen jener Totalitarismustheoretiker lenkt, die gern von den ökonomischen und kulturellen Besonderheiten abstrahieren, das nationalsozialistische mit dem stalinistischen Herrschafts- und Terrorsystem identifizieren und dadurch das eine durch das andere in seiner Einzigartigkeit relativieren? Besteht nicht die Gefahr einer Aufwertung jener unsäglichen neokonservativen Position im westdeutschen Historiker-Streit, derzufolge der Holocaust, also Hitlers „Rassenkrieg“, eine Folge von Stalins „Klassenkrieg“, insbesondere der Ermordung der Kulaken, war?

Bullock sieht die Gefahr, von der falschen Seite vereinnahmt zu werden. Doch er beharrt auf der Möglichkeit und dem Nutzen eines doppelbiographisch angelegten Systemvergleichs, ohne näher darzulegen, worin dieser bestehen könnte. Vielmehr begnügt er sich mit dem allgemeinen Hinweis, daß das fast gleichzeitige Erscheinen von Hitler und Stalin auf der politischen Bühne, die Wechsel- und (bis in unsere Gegenwart reichenden) Nachwirkungen der von ihnen wesentlich geprägten „revolutionären Machtsysteme“ das „bemerkenswerteste und neuartigste Phänomen“ in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts gewesen sei. Vielleicht, aber ein theoretischer Erklärungsansatz ist das nicht, will es nicht sein.

Bullock deutet zumindest an, daß die Niederlage des einen Systems den Sieg und die weltweite Ausbreitung, Aufwertung und Stabilisierung des anderen begünstigt hat. Ohne Hitlers Krieg wären nicht nur Auschwitz und Hiroschima nicht gewesen. Und ohne den „Großen Vaterländischen Krieg“ hätte das Stalin-Regime vielleicht „nie eine so unangefochtene Machtstellung erreicht und autokratischen Charakter angenommen“, wie der amerikanische Historiker Henry A. Turner in seinem glänzenden Essay über Hitlers Hinterlassenschaft unlängst zu bedenken gab.

Doch Bullocks Methode ist nicht der essayistische Zugriff und die kontrafaktische Analyse, sondern der großangelegte Vergleich. Ein Vergleich allerdings, der nicht systematisch verfährt, sondern die — in Entwicklungsabschnitte gegliederten — Lebensgeschichten beider Männer synchronisiert, also so weit wie mögich parallel behandelt, was Bullock allerdings gewisse Schwierigkeiten bereitet. Nicht nur wegen der Altersdifferenz der beiden Akteure: Stalin war zehn Jahre älter als Hitler. Nur in einem Kapitel, zweifellos dem interessantesten, werden die Persönlichkeitsprofile der beiden Protagonisten und ihre politischen Karrierewege systematisch miteinander verglichen.

Beide begannen ihren Aufstieg ganz unten. Beide hatten jahrelang am Rande der Gesellschaft gelebt und wurden nachhaltig von diesen Milieu-Erfahrungen geprägt. Beide treten dem Leser als Psychopathen und zugleich als ungewöhnlich talentierte Politiker entgegen. Bullock beschreibt Stalin als ungeschliffenen, primitiven Mann, der mehr von Haß, Rachsucht und Ressentiments bestimmt war als von idealistischen Motiven, um ihn gleichwohl einen „Meister der Verstellung“ zu nennen, der seine Geheimnisse und Absichten ebenso für sich behielt wie seine Gefühle: „Täuschung und Verrat waren ihm zur zweiten Natur geworden.“ Wie Hitler sei auch Stalin ein „Musterbeispiel machiavellistischer Politik“ gewesen, mit dem „Instinkt für den richtigen Zeitpunkt“ und der „intuitiven Fähigkeit, die Schwächen eines Gegners zu erfassen und auszunützen“.

Während Stalin bei seinen Ambitionen und Aktionen auf dem verschlungenen Weg zur Alleinherrschaft aus dem Hintergrund agierte und stets vorgab, „nur im Interesse der Partei und im Sinne Lenins zu handeln“, konnte Hitler offen auf- und als neuer Führer in Erscheinung treten. Beide bewährten sich als Organisatoren und Parteiführer. Während Stalin über keine bemerkenswerten rhetorischen Fähigkeiten verfügte, verdankte Hitler gerade diesen in hohem Maße seine Erfolge. Er suchte für seine Auftritte deshalb immer wieder die großen Massenveranstaltungen. Stalins Forum waren die geschlossenen Räume, in denen die Führungsgremien der Partei tagten. Er identifizierte und bekämpfte seine Gegner als einzelne konkrete Personen in der Parteiführung. Hitler kämpfte vor allem gegen „abstrakte“ gesellschaftliche Großgruppen, gegen Juden, Marxisten usw.

Stalin gehörte zur Führung einer Partei, die bereits im Besitz der Macht war, während Hitler seine Partei dahin erst bringen mußte. Dabei konnte dieser an die romantisierte Tradition des deutsch-germanischen Volksführertums anknüpfen und mit dem lange vor 1933 geschaffenen Führer-Mythos als vermeintlicher Retter der Nation die weitverbreiteten Erlöserträume und Großmachtphantasien befriedigen. Demgegenüber mußte Stalin zunächst „die tiefsitzende Abneigung der Kommunisten gegen jede Art von Personenkult“ überwinden und aus dem Schatten Lenins heraustreten bzw. den magischen Glanz dieses Namens auf den seinen lenken.

Bullock betont verschiedentlich, welch große Bedeutung Hitlers und Stalins Glaube an ihre jeweilige geschichtliche Mission für ihren Aufstieg hatte. Aufschlußreicher wäre, zu wissen, ob und wann sich beide mit diesem Glauben identifizierten oder ob und inwieweit auch hier ihr instrumentell-zynisches Verständnis von Politik dominierte. Bullocks Behauptung jedenfalls, Hitler sei „seit jeher“ überzeugt gewesen, „auserwählt zu sein“, und niemand habe den Hitler-Mythos ernster genommen als dieser selbst, wird man nicht pauschal und ohne zeitliche Präzisierung gelten lassen können.

Der Schlüssel zur Erklärung des Aufstiegs beider Politiker liegt natürlich nicht nur oder vor allem im Personenkult, den beide um sich aufbauten. Und auch nicht darin, daß in beiden psychopathische Elemente und machiavellistische Talente erfolgsträchtige Verbindungen eingingen. Kontingente, von beiden kaum oder gar nicht beeinflußbare Umstände kamen hinzu. Ohne den Ersten Weltkrieg und die russische sowie deutsche Niederlage mit ihren nachfolgenden revolutionären und gegenrevolutionären Umwälzungen hätten weder Stalin noch Hitler eine Gelegenheit zum politischen Aufstieg bekommen.

Ohne einen — allein für sie — glücklichen Zufall in letzter Minute auch nicht. Für den einen war es im Januar 1924 der frühe Tod Lenins, der gerade dabei war, Stalin als Generalsekretär wieder abzusetzen. Und für den anderen war es das erneute Angebot von Papens im Januar 1933, nachdem die NSDAP in der November-Wahl hohe Verluste erlitten hatte und in großen Schwierigkeiten war, die durch das Ausscheiden von Gregor Strasser noch verstärkt wurden.

Nachdem sie aber einmal die Macht in Händen hielten, zeigte sich, wieviel sie nicht zuletzt ihrer Zielstrebigkeit und ihrem Zeitgefühl verdankten, ihrem Machtinstinkt und ihrem Sendungsbewußtsein, ihrem taktischen Geschick und ihrer Skrupellosigkeit. Dabei bleiben sie als Individuen farblos. Ihr Privatleben ist dürftig und für den Biographen ziemlich unergiebig, auch für das voyeuristische Leserauge. „Imposant“, so Bullock, sind Hitler und Stalin nur als politische Rollenspieler. Profil und Statur gewinnen sie erst als Staatsakteure und politische Gewaltverbrecher. Sei es im Umgang mit ihren wichtigsten Instrumenten, der Partei, dem Repressionsapparat und den Kommunikationsmitteln, sei es in ihrer Selbstdarstellung, in der Inszenierung der Macht und der beständigen Mobilisierung der Massen, sei es in ihren politischen Visionen, in ihrem Verfolgungs- und Vernichtungswahn, in ihren Verbrechen.

Dieses im engeren Sinne vergleichende Kapitel liest sich wie eine Zusammenfassung. Es steht aber nicht etwa am Ende. Vielmehr unterbricht es nur die chronologische Darstellung. Nicht grundlos im Jahr 1934, nämlich genau dort, wo Hitler und Stalin in der Absicherung ihrer Macht nach innen eine entscheidende Phase abschließen oder einleiten: Hitler beendet mit der Beseitigung Röhms und eines Großteils der SA- Führung die „nationale Erhebung“ und verpflichtet sich zugleich die Reichswehr als entscheidenden Bündnispartner; Stalin beginnt mit der Ermordung Sergej Kirows, des neuen Stars der Partei und Stalins möglichen Nachfolgers, eine Serie von Terrorwellen, denen Millionen Menschen zum Opfer fallen.

Vor allem aber steht dieser Vergleich dort, wo die doppelbiographische Perspektive gleichsam an ihre Grenze stößt und sich die Erzählung der beiden spektakulären Lebensgeschichten zu einer Darstellung von Vorgeschichte und Verlauf des Zweiten Weltkriegs erweitert. Erst jetzt müssen Hitler und Stalin nicht mehr nur durch den synchronisierenden Vergleich des Biographen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sie agieren nun selbst mit-, vor allem aber: gegeneinander. Als Verkünder und Verfechter vorgeblich neuer Gesellschafts- und Weltordnungen, als vermeintliche Partner des nach ihnen benannten Paktes und schließlich als Oberbefehlshaber ihrer Armeen und Todfeinde in einem Krieg, dessen Ausgang beiden zunächst einen sehr unterschiedlichen Platz in der Geschichte zuweist: dem einen als Verlierer und personifiziertes Böses schlechthin, dem anderen (im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition) als Sieger und Befreier Osteuropas vom Faschismus. Mit den Enthüllungen Chruschtschows beginnt allerdings

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schon bald zumindest die Revision des Stalin-Bildes.

So läuft diese Studie schließlich auf einen Vergleich der beiden Staatsverbrecher und der durch ihre Regime begangenen Gewaltverbrechen hinaus. Ein rein quantitativer Vergleich ihrer Opfer sei möglich und „durchaus statthaft“, meint Bullock. Aber ist er nicht auch ziemlich sinnlos, zudem mißverständlich und mißbrauchbar — wie jedes bloße Zahlenwerk? Mag Bullock auch — mit einem Seitenblick auf den westdeutschen Historikerstreit — erklären, daß das eine Verbrechen nicht weniger einzigartig sei als das andere und die „Unvergleichlichkeit des Holocaust“ bestehenbleibe. Was nützt es den Opfern, was erklärt es den Nachgeborenen, wenn Bullock resümiert, daß Stalins Massenmorde der „Erreichung politischer und rassistischer Ziele“ dienten, während Hitlers Massenmorde „nicht Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich“ waren?

Zu Recht hat die politische Biographie ihren selbstverständlichen Platz unter den Gattungen der Geschichtsschreibung — trotz aller zwischenzeitlichen Anfechtungen und gegenläufigen methodologischen Trends— behauptet oder wieder eingenommen. Gleichwohl ist sie der Gefahr ausgesetzt, in „positivistischer Stoffbewältigung und narrativer Ereignisgeschichte stecken“ (Wehler) zu bleiben. Denn auch die biographische Methode ist in ihrer Reichweite begrenzt und in der Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit nicht frei von spezifischen Verkürzungen und Verzerrungen. Ihr Blick ist auf die herrschenden Hauptakteure, also „von oben“ auf die Geschichte gerichtet. Sie reduziert Politik somit fast zwangsläufig auf die personelle, populistische oder private Dimension. Die komplexen gesellschaftlichen Grundlagen von Macht und Herrschaft erreicht sie nur schwer. Wer sie verstehen und verständlich machen will, muß jedenfalls auch nach den sozialen Bedingungen von Unterordnung und Widerstand fragen und damit nach den Voraussetzungen von Diktatur und Demokratie überhaupt. Etwa so, wie es Barrington Moore in seinen vergleichenden Modernisierungsstudien und Strukturanalysen zur sozialen Ungerechtigkeit getan hat.

Das ist nicht Bullocks Sache und Sicht der Geschichte. Sein Interesse liegt woanders, und seine Stärke auch. Er ist ein sehr guter Erzähler und ein Chronist mit geradezu enzyklopädischem Wissen. Er kann und mag nichts auslassen, hat aber kaum Kriterien, um seinen Stoff zu strukturieren, geschweige denn Thesen, die zu einer perspektivischen Zuspitzung und theoretischen Deutung der dargestellten Geschichte führen würden. Vom ersten Augenblick an verläßt er sich auf die Faszination seiner Hauptdarsteller— und auf sein erzählerisches Talent. Er vertraut ganz auf die parallele Verfolgung ihrer Karrierewege als inneren Zusammenhalt seiner Darstellung: „parallel lifes“ als Leitfaden.

Diesen Lebensgeschichten mag der Leser am Ende ebenso beeindruckt und bestürzt wie ratlos und erschöpft gegenüberstehen und sich mit Bullock fragen, warum „Hitler und Stalin die Herren Europas [wurden], statt in der Nervenheilanstalt zu landen“?

Alan Bullock: Hitler und Stalin · Parallele Leben . Aus dem Englischen von Karl Heinz Siber und Hellmut Ettinger, Siedler Verlag, Berlin, 1.344 Seiten, 225 Abbildungen, Leinen, 78DM