Wo bleibt Bobby Fischer?

■ Die Erfüllung der Großmeisternorm der Männer durch die erst 15jährige Ungarin Judith Polgar ist die größte Provokation für das in den Untergrund abgetauchte US-amerikanische Schachgenie Fischer

Berlin (taz) — „Eine Frau wird mich niemals einholen“, verkündete der Schachmacho und Schachweltmeister Garri Kasparow. Er irrte. Der Armenier verdiente sich 1980 mit dem Gewinn der Junioren-Weltmeisterschaft den Titel „Internationaler Großmeister“. Damals war er 17. Die Ungarin Judith Polgar erfüllte nun in dieser Woche beim Wiener Schachfestival ebenfalls die Großmeisternorm für Männer — als erst fünfzehnjähriges Mädchen. Zwei Jahre jünger als Kasparow.

Bis heute ist es eine absolute Rarität, wenn Schachspielerinnen in die Dominanz der männlichen Brettspieler eindringen. Nona Gaprindaschwili, Weltmeisterin von 1962 bis 1979, fand dafür ausschließlich physische Gründe: „Körperliche Fitneß ist die wichtigste Voraussetzung für Spitzenschach. Nur dort haben die Männer Vorteile“, meinte die Georgierin, die als erste Frau so manches Männerturnier mit Überraschungssiegen aufschreckte.

Außer ihr dürfen sich auch die amtierende Weltmeisterin Maja Tschiburdanidse, ebenfalls aus der georgischen Sowjetrepublik, und die Ungarin Zsuzsa Polgar „Internationale Großmeister“ nennen. Die 22jährige und älteste der drei Polgar-Schwestern erreichte die Norm im Frühjahr dieses Jahres bei einem hervorragend besetzten Männerturnier in Spanien.

Nun zog die jüngste „Polgarin“ nach, die die Pädagogik-Theorien ihres Vaters am konsequentesten und anscheinend auch am erfolgreichsten durchsetzt. „Genie ist nicht angeboren, sondern erziehbar“, meinte der Budapester Lehrer und trimmte seine drei Töchter zu Genies des Schachspiels. Dabei sind ihm Erfolge bei Frauenturnieren absolut egal, wenn man von den beiden Siegen bei der Schacholympiade 1988 und 1990 gegen die Spitzenspielerinnen aus der UdSSR absieht. Das laufende WM- Match zwischen Tschiburdanidse und der Herausforderin Xie Jun aus China (Stand: 5,5:6,5) interessiert den Polgar-Clan überhaupt nicht. Das Ziel des ehrgeizigen „Frauenprojekts Schach“ ist klar: die Krone der Männer.

Auf diesem Weg stürzte die 15jährige Judith in dieser Woche ein neues Superlativ. In diesem Alter konnte kein Mensch der Welt so perfekt wie sie Schach spielen. Überhaupt gab es nur einen Spieler, der bereits mit 15 Jahren die Großmeisternorm erfüllte: Bobby Fischer. Der Junge aus Chicago wurde mit dreizehn Juniorenmeister der USA, verließ anschließend die Schule mit der Begründung „Alle Lehrer sind Idioten“ und erhielt bereits zwei Jahre später den Titel „Internationaler Großmeister“. 1958 reichte allerdings eine Normerfüllung, heute müssen bei mehreren Turnieren insgesamt 24 Partien gespielt werden.

Damit bröckelte auch die letzte Säule vom Nimbus des „größten Schachwunders aller Zeiten“. Als Robert James Fischer 1972 in Reykjavik den amtierenden Weltmeister Boris Spasski (damals Sowjetunion, heute Frankreich) nach einem 0:2-Rückstand mit 12,5:8,5 vom Schach-Thron fegte, sprach die Welt der Brettspieler ehrfürchtig vom „Fischer-Syndrom“ und der „Fischer-Angst“. Als Schachweltmeister spielte er keine öffentliche Partie mehr und verlor den Titel 1975 kampflos an Anatoli Karpow. Es dauerte aber noch 17 Jahre, bis Garri Kasparow den US-Amerikaner in der ELO-Zahl, einer kompliziert berechneten Größe der Spielstärke, übertraf. Auch den Titel des „jüngsten Großmeisters aller Zeiten“ kann Bobby Fischer nun verlieren.

Aber Fischer bleibt weiterhin verschwunden und läßt die Sagen um seine Person wuchern. Bei der 29.Schacholympiade im November 1990 lockte das jugoslawische Novi Sad letztmals mit der Ankündigung, daß der Meister himself, daß Bobby Fischer zum Turnier kommen würde. Ein TV-Reporter wurde extra nach Kalifornien geschickt, um Fischer zu suchen. Es gelang ihm sogar, über dessen Anwalt eine Einladung abzuschicken. Ob sie angekommen ist, weiß keiner. Robert Fischer jedenfalls kam nicht.

Fischer wurde letztmals bei der mysteriösen Sekte „Church of God“ gesichtet. Die Sektierer sollen auch den Großteil seiner beim Schachspiel verdienten Millionen verjubelt haben. Deshalb hält sich immer wieder das Gerücht von Bobby Fischers Combeback. Aus finanziellen Gründen. „Können sie fünf Millionen Dollar zahlen?“ antwortet eine selbsternannte Managerin Fischers auf Anfragen von Turnierveranstaltern.

Bobby Fischers Grundthese vom Schach war der „Killer-Instinkt“. Möglich, daß es den Polgar-Schwestern aus Ungarn gelingt, diesen Instinkt beim Ex-Weltmeister neu zu wecken. Wenn Genie wirklich erziehbar ist, müßte Genie doch auch kompensierbar sein. Ein Match Judith Polgar gegen Robert Fischer würde die Schachwelt jedenfalls mehr beschäftigen als drei Weltmeisterschaften von Kasparow und Karpow hintereinander. bossi