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Kommt er oder kommt er nicht?

■ Russisches Parlament wollte Honeckers Ausreise debattieren — und tat es dann doch lieber nicht

Moskau/Berlin (taz/ap) — Das russische Parlament glättet schon am Vormittag die Moskauer Landebahn für Hans Dietrich Genscher. Die Debatte um Erich Honecker fiel aus. Der Oberste Sowjet hielt sich vorsichtig raus, denn — so die Stimmung unter den Deputierten — schließlich sei die Einreise Honeckers auch eine nächtliche Staatsaktion gewesen, an der das Parlament nicht beteiligt war.

Sergej Baburin, Sprecher der Kommunistischen Fraktion, hatte am Vortag noch lautstark angekündigt, über den Fall Honecker müsse diskutiert werden, weil eine Auslieferung die Grenzen der Moral überschreite. Am Freitag vormittag verzichtete er darauf, die Frage überhaupt zur Diskussion zu stellen. Er habe nur die Aufmerksamkeit darauf richten wollen, sagte er im Foyer des Weißen Hauses, daß schließlich die gesamte sowjetische Führung mit Erich Honecker persönlich befreundet gewesen sei.

Die deutsch-sowjetischen Bruderküsse seien nicht vergessen. Der alte Mann täte ihm leid, erklärte auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Obersten Sowjets, Sergej Kowaljow. Und also vermieden die Parlamentarier, sich irgendwie festzulegen, obwohl doch aus dem russischen Justizministerium schon zu hören gewesen war, die Rückführung Honeckers sei beschlossene Sache.

Aber Justizminister Fjodorow hielt eine beruhigende Kompromißformel bereit: Wenn Ärzte von der Auslieferung abraten, dann solle Honecker bleiben, wo er ist — hinter den schmiedeeisernen Gittern sowjetischer Militärhospitals.

Ganz anders dagegen die Debatte in Deutschland. Honecker müsse bei einer Rückkehr aus Moskau sofort in staatlichen Gewahrsam genommen werden, sagte der Wittenberger Pfarrer Schorlemmer am Freitag im Sender Freies Berlin. Gleichzeitig dementierte er einen Zeitungsbericht, wonach er angeboten habe, Honecker Obdach vor seinen gewalttätigen Feinden zu geben. „Wenn jemand, der in Not ist und keine Unterkunft findet und bedrängt ist von Menschen, wenn der vor meiner Tür steht, dann kann ich nicht sagen: Verschwinde, du bist mein Feind.“ Auf Honecker wollte er diesen Satz nicht bezogen sehen.

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