Schrottinstrumentarium

■ Zwei Konzerte im Rahmen des »Urbane Aboriginale VII — Osteuropa«

Am Donnerstag abend bestritt die Dreimanntruppe »ZGA« aus Riga das dritte Konzert des diesjährigen Festivals »Urbane Aboriginale« der Freunde Guter Musik. Die Gruppe, deren Name wohl soviel bedeuten soll wie »das pechschwarze Dunkel«, gründete sich 1984 bereits in einem der trostlosen Wohnblocks am Rande der lettischen Hauptstadt.

Nach einer knappen Stunde Warten im nicht gerade überfüllten SO36 begannen die drei Musiker ihre größtenteils selbstkonstruierten Klangwerkzeuge zum Klingen zu bringen. Das nennt sich nicht umsonst im Untertitel »Iron Music«: Nikolai Sudnik und Alexander Zhilin spielen lange Zeit über keinerlei herkömmliches Instrument, sondern erzeugen auf Metallplatten, -federn, skurrilen Saitenkonstruktionen vor allem laute, orgiastische Klangkomplexe. Fundstücke städtischer Existenzen vielleicht?

Der dritte Mann im Bunde, Valery Dudkin, bleibt als einziger seinem Instrument, der Gitarre, treu. Und die läßt sich in vielfältiger Weise verwenden, die elektronisch verstärkten und kräftig verhallten Klangflächen der beiden Kollegen zu unterstützen und vor allem: zu strukturieren. Zwar schont Dudkin in keiner Weise die Ohren der Zuhörer — die Schmerzgrenze unterschreitet die Band in der ersten halben Stunde selten — dafür weiß er aber, sei's durch schreiende Rückkopplungen oder flirrend-perkussive Verläufe, in geschickter Art und Weise Akzente zu setzen und Strukturen zu bilden.

Die anderen beiden bleiben unterdessen dem Schrott-Instrumentarium treu, nur selten greift Sudnik für ein paar Töne zur Klarinette oder gibt wenige halb gesungene, halb rezitierte Worte von sich. Zhilin gar entschwindet zwischendurch irgendwo auf dem Fußboden hinter seinem optisch äußerst wirkungsvoll aufgebauten Intrumentarium, und was er da spielt oder macht, bleibt dem Ohr in diesem musikalischen Etwas, das manchmal in psychedelische Klangorgien-Belanglosigkeit abzudriften droht, kaum auszumachen. Gott sei Dank, daß heutzutage bei derlei Veranstaltungen längst obligat gewordene Video-Kamera-Filmer immer wieder den Aufenthaltsort entschwundener Musiker verraten.

»Anders als bei vielen Industrial- Noise & Trash Bands westlicher Provenienz«, heißt es in der Konzertankündigung, »ist ZGA-Musik durchsetzt von Passagen poetischer Tiefe und Sensibilität.« Sogar von »introvertierter, persönlicher Schärfe« ist da die Rede. Und zum Glück hatte sich das Warten dann gelohnt — nach einer guten halben Stunde kippte plötzlich das musikalische Geschehen, und leise Töne wurden hörbar. Assoziationen an balinesische Gongs klangen an, selbst eine wohl lettische Volkslied-Melodie wurde auf der Blockflöte zitiert. Da konnte dann wirklich von Tiefe und Subtilität geredet werden, eine musikalische Entspannung wird ahnbar, die mit Langeweile nichts gemein hat.

So entpuppt sich die erste halbe Stunde Dauer-Getöse als wirkungsvolle musikalische Dramaturgie, die Ohren für ungewohnte, sensible Klangwelten zu öffnen, die die eigentliche Stärke dieser Formation verraten.

Jedenfalls ein spannendes Unterfangen, im Rahmen eines solchen Festivals östliche Gegenwartsmusik vorzustellen und dortige Entwicklungen aufzuzeigen — wer hätte schon geahnt, daß im lieblichen Lettland derartige Musik existiert, die eben doch nicht bloß verspätetes Imitat westlicher Einflüsse ist, sondern durchaus eigenen Charakter zeigt.

Samstag abend verlagerte sich das Konzertgeschehen in das Ballhaus Naunynstraße. Als »Stimmwunder aus Zentralasien« angekündigt war die in Berlin längst nicht mehr ganz unbekannte Vokalistin Sainko Namchalak gemeinsam mit dem Moskauer Schlagzeuger Michail Shukov.

Wirkungsvoll wurde zu Konzertbeginn der überfüllte Saal — die Berliner Avantgardeszene gab sich ein Stelldichein — ins Dunkel gehüllt. Daraus erhoben sich dann schwacher Lichtschein und die zurückhaltenden Improvisationen des Duos. Obwohl Sainko Namchalik über eine hervorragende Technik verfügt, waren die sechs Oktaven Stimmumfang der Programmankündigung wohl doch leicht übertrieben. Faszinierend aber, wie sie Harmonizer-ähnliche Effekte durch Obertonkopplung, zwitschernde Stimmlaute im hohen Register oder Kehlkopfklänge hervorzaubert. Michail Shukov beschränkt sich meist aufs Begleiten und versucht wenig, aber wesentliches auf seinem ohnehin bereits stark reduzierten Perkussionsapparat beizugeben. Die Musik läuft meist gelassen dahin, bricht sich oftmals, nimmt verloren geglaubte Fäden wieder auf. Folklore-Gesänge werden zitiert oder verwendet. Performance-Elemente, wie Sand auf Trommel und Perkussionsgeräte zu schütten, werden von Michail Shukov mit äußerster Musikalität eingesponnen und von Sainko Namchalik in merkwürdig verlangsamt erscheinende Theatralik verwandelt. Da werden fallende Sandkörner nicht wie bei Fred Frith verschmitzt-lustige Aktion, sondern bedeutungsschwer-symbolischer Akt.

Gegen Ende erlaubte sich das Duo denn noch einige humoristische Ausflüge, bei denen zu guter Letzt auch der obligate auf der Standtrommel aufspringende Fluxus-Tischtennisball nicht fehlen durfte. Glücklicherweise wurden solcherlei Untiefen vom fremdländischen Charme überdeckt — das Publikum feierte die beiden enthusiastisch.

Im zweiten Teil des Abends wurde wieder die Lichtdramaturgie zur Hilfe genommen — im ersten Teil waren zwei verächtlich-ironisch auf das versammelte Publikum herunterblickende Gips-Fratzen an der Seitenwand des Saales angestrahlt worden. Diesmal allerdings ging's thematisch gebunden, sich wiederum aus dem Dunkeln erhebend, eher in höhere Regionen: die Decke hoch oben wurde methaphysisch dezent indirekt ausgeleuchtet, ging's doch nun um »zeitlose Archaik« und »mystische Quellen«, auf deren Suche sich der schlesische Musiker Mieczyslaw Litwinski mit Hilfe zweier Harmonien und seiner Stimme begab. Was er dann aber kreierte, waren nichts als banalste Klischees, ein wenig gregorianische Melodik, bisweilen eine aus der Popmusik entlehnte nette Halbtonrückung und eine Prise Obertongesang. Da gesellt sich noch einiges Verwendbares hinzu, doch auch der weitschweifende, wirkungsvoll in die erleuchtete Himmelssphäre gerichtete Blick half da nicht mehr über die substantielle Leere hinweg. Die hübsch eingestreuten englischen Erklärungen (»I'm going from the West to the East and from the East to the West«) und der groß verkündete Erfolg in seinem seit '85 gewählten »Exil« New York, speziell in der Carnegie-Hall, sprach denn auch weniger für ihn denn gegen die Carnegie- Hall.

Als Fazit aber bleibt, daß »Urbane Aboriginale« nach wie vor zu den besten und spannendsten Festivals zeitgenössischer Musik in Berlin gehört. Und das schon allein deshalb, weil sich die Veranstalter »Freunde guter Musik« in keiner Weise der sich breitmachenden Tendenz angeschlossen haben, daß Festivals neuer Musik nur aus der Permutation immer gleicher Namen zu bestehen haben, sondern das Risiko wagen, in Neuland zu treten und dabei entsprechend ihrem Motto grenzenlos zu sein. Da kann man die nächsten urbanen Aboriginale gespannt erwarten. Marc Maier