Rechtsextremismus kein Nach-Wende-Phänomen

■ Sozialforscher legen Erkenntnisse über Rechtsextremismus bei Ostberliner Jugendlichen vor/ Jeder fünfte will das »Deutschtum rein erhalten«/ 10 Prozent halten Terroranschläge für wirksam/ Rechtes Potential nimmt mit höherer Bildung ab

Berlin. Die gern von einigen Politikern verbreitete Behauptung, nur wenige Jugendliche ließen sich dem rechten Spektrum zuordnen, scheint zumindest für Ost-Berlin jetzt widerlegt. Nach den Erkenntnissen des Ostberliner Soziologen Stephan Maßner lassen sich bei über einem Drittel (34,7 Prozent) der Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren »bedenkliche rechtsextreme Einstellungsmomente« feststellen. 10 Prozent gehören der rechtsextremen Szene an oder sympathisieren stark mit ihr.

640 Jugendliche hat der Soziologe im Rahmen einer Studie über »Rechtsextremismus und Neonazismus in Ost-Berlin« befragt, jeweils ein Drittel aus den Bezirken Lichtenberg, Marzahn und Prenzlauer Berg. Untersucht wurden autoritäre Persönlichkeitsstrukturen, die Einstellung gegenüber Ausländern und eine mögliche Gewaltbereitschaft. Das Ergebnis war zum Teil verblüffend. Das rechtsextreme Potential in Lichtenberg, allgemein als »Fascho- Hochburg« verschrien, war keinesfalls höher als im vermeintlich »linken« Prenzlauer Berg. In Marzahn allerdings lagen die Werte bei 40 Prozent gegenüber 31 in Prenzlauer Berg und Lichtenberg.

Auch einen Zusammenhang des rechten Potentials mit der Arbeitslosigkeit konnten die Wissenschaftler nicht feststellen. »Wir müssen uns von konstruierten Schemata trennen«, sagt Norbert Madloch, einer von 15 an der Studie beteiligten Wissenschaftlern und ehemals an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Ost-Berlin tätig. »Sonst sind wir in Gefahr, ständig Potemkinsche Dörfer aufzubauen.«

In Sachen Autoritätsgläubigkeit und Ausländerfeindlichkeit spricht die Studie, wenngleich in ihrem Umfang nicht repräsentativ, eine deutliche Sprache: So meinen über zehn Prozent, daß »Deutschland wieder einen starken Führer braucht, der zum Wohle aller mit starker Hand regiert«. 20 Prozent wollen »streng darauf achten, das Deutschtum rein zu erhalten«. Über die Hälfte hält es für ganz oder teilweise richtig, Ausländer zurückzuschicken, wenn die Arbeitsplätze knapp werden. Und: Nur 23 Prozent halten diesen Weg für falsch.

Am deutlichsten ist das rechte Einstellungspotential bei den Befragten zwischen 15 und 17 Jahren. Mit steigendem Alter — und mit höherem Schulabschluß — sinkt der Anteil derer mit rechten Einstellungen. Während 43,9 Prozent der Lehrlinge sich deutlich rechts äußerten, sind unter den Studenten nur 6,5 Prozent mit rechtem Einstellungspotential. Auch die Einschätzung politischer Auseinandersetzungsformen der Jugendlichen spricht Bände: Während nur 71,1 Prozent die Nutzung der vorhandenen demokratischen Mittel für wirksam halten, glauben 23,1 Prozent an die Effizienz der Anwendung von Gewalt gegen Sachen und Personen. 10 Prozent halten Terroranschläge für eine wirksame Form der politischen Auseinandersetzung. Knapp 6 Prozent gaben an, auch tatsächlich zur Gewaltanwendung bereit zu sein.

In 480 Seiten bieten die 15 Wissenschaftler der »Projektgemeinschaft Sozialforschung« eine Bestandsaufnahme und Analyse der Lage in Ost- und West-Berlin. Eine Chronologie rechter Übergriffe fehlt dabei ebensowenig wie eine Auflistung und Beschreibung der Organisationen und die Suche nach Ursachen und Gegenstrategien. Deutlich wird, daß Rechtsextremismus kein Nach-Wende-Phänomen ist. »Doch durch die allgemeine Perspektivlosigkeit und Desorientierung wird das Thema immer drängender«, so Madloch, der am Thema »Rechtsextremismus in der DDR« arbeitet.

Patentrezepte können die Wissenschaftler auch nicht geben. In keinem Fall könne jedoch das Thema eindimensional bearbeitet werden, so eine Hauptaussage. Außerdem fehlten immer noch empirische und theoretische Erkenntnisse. Sozialarbeit mit rechten Jugendlichen sei ebenso notwendig wie Geschichtsaufarbeitung und die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Ferner fehle ein politisches Konzept mit klaren Grundaussagen gegen den Rechtsextremismus und die öffentlichkeitswirksame Verbreitung von Gedanken wie »Dem Haß keine Chance«. Und: »Jugendpolitik darf nicht länger als Reparaturbetrieb verstanden werden.« Jeannette Goddar

Die Studie »Rechtsextremismus und Neonazismus unter Jugendlichen in Ost-Berlin« ist demnächst über das »Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V.«, Markgrafenstraße 25, O-1035 Berlin erhältlich.