Obdachloser Mann im Schlaf angezündet

■ In einer Toilette am Stuttgarter Platz wurde ein schlafender Wohnungsloser mit einer brennenden Flüssigkeit beworfen und dabei schwer verletzt

Charlottenburg. Die Flaneure der Stadt lieben die Lokale am Stuttgarter Platz. Der Bordeaux kostet sechs Mark pro Glas; keine Musik stört den intellektuellen Redefluß; gegen Mitternacht ist kaum mehr ein Stehplatz zu bekommen. 30 Meter von der Metropolitan-Idylle entfernt, steht eine öffentliche Bedürfnisanstalt. Es ist eines der letzten Relikte des Rotlicht- Milieus am Stutti. Abschlagstelle für befriedigte Freier, Schwarzhändler, Kontakthof für jugendliche Stricher. Manchmal in den kalten Nächten breiten Obdachlose ihre Pappen neben den Pissoir-Becken aus, schützen sich mit Decken, geklaut aus Altkleidersammlungen, gegen den Wind von draußen.

In der Nacht zum Sonntag kurz vor Mitternacht klappt die Tür auf, Unbekannte werfen einen Behälter mit brennender Flüssigkeit auf ein Bündel Mensch, das da liegt und versucht zu schlafen mit vielen Promille im Blut. Der Mensch schreit, Sekunden später steht er in Flammen, verheddert sich im Schlafsack, im Mantel. Zwei Männer, sind es die Flammenwerfer oder andere?, ziehen den brennenden Mann auf die Straße und rennen davon. Eine Passantin ruft um Hilfe, Streifenpolizisten, routinemäßig auf Stutti-Tour, eilen herbei, reißen dem Mann die Kleider vom Leib, retten ihm das Leben, der verbrannt wäre im letzten Rest von eigenem Wohlstand; vier übereinandergezogene Hemden, zwei Pullover, zwei Mäntel.

Der Mann kommt in die Klinik, Urban-Krankenhaus, Abteilung Plastische Chirugie. Der Rücken ist verbrannt, beide Hände — und dies schwer. Die Polizei sagt, 15prozentige Hautverbrennungen, zweiten und dritten Grades. Der dritte Verbrennungsgrad ist der schwerste, die Regenerationsfähigkeit der Haut ist zerstört.

Der Mann, angezündet von Unbekannten, liegt jetzt seit Jahren zum erstenmal wieder zwischen Laken. „Wenn nur die Schmerzen nicht wären“, sagt er und versucht sich in die Kissen zurückzulegen, „ich bin ja obdachlos.“ Gegen das Händeflattern und die Entzugserscheinungen haben die Ärzte ihm sedative Mittel gegeben. Gegen den Brand Tee und Milch in einer Schnabeltasse statt Schnaps und Bier aus der Flasche. Der Mann heißt Dieter R., ist 52 Jahre alt. In den Sommernächten rollt er sich im Lietzenseepark zusammen, in den kalten Monaten hofft er auf einen Schlafplatz in S-Bahnzügen, der letzte Anker ist das stinkende Klo am Stutti.

Er ist ein Charlottenburger Obdachloser, einer der rund 600 in diesem Bezirk registrierten, einer von knapp 8.000 Obdachlosen, die in Berlin Sozialhilfe bekommen. 112 Mark erhält er die Woche. Das Geld geht für die Minipizza, den Tabak und den Schnaps drauf, das Schlafen muß umsonst sein. Es gibt in Charlottenburg ein Obdachlosenheim mit 240 Schlafplätzen am Friedrich-Olbricht Damm, einige kleinere Einrichtungen dazu. Dorthin wollte Dieter R. nie gehen. „Da wird einem ja noch das Hemd vom Leib geklaut, da kriegt man ja die Krätze“, sagt er. Eine eigene Wohnung hat Dieter R. nie gehabt. Aufgewachsen ist er in Heimen, die Schule hat er nach sechs Klassen abgebrochen, diverse Lehren scheiterten. Über 50mal war er im Knast, davon, weil Obdachlosigkeit früher verboten war, 30mal wegen Landstreicherei. Mit einer Frau hat er vor Jahren zusammengewohnt, aber die wollte immer „warum, weshalb, wieso“ wissen. Da ist er davongerannt und hat 13 Jahre im Haus Boston in der Kaiser- Friedrichstraße gewohnt. „Das war schön“, erinnert er sich. Aber als er von einem Krankenhausaufenthalt zurückkam — „ich habe offene Beine“ —, war der Schlafplatz belegt. Mit dem Sozialarbeiter habe er Alternativen gesucht, aber „das war vergeudete Mühe“. Die Männer, die ihn angezündet haben, sind Idioten, sagt er, aber Glück im Unglück, „sie haben es wenigstens im Winter getan“. Anita Kugler