Japans unsichtbarer Herrscher

Die Regierungspartei LDP wählte gestern ihren Vorsitzenden, der automatisch Regierungschef wird. Für den Favoriten entschied sich die stärkste Fraktion in der Partei bereits Mitte Oktober. Als mächtigster „Königsmacher“ innerhalb der Fraktion gilt Shin Kanemaru.  ■ AUSTOKIOGEORGBLUME

Alle zwei Jahre geht in Japan der Vorhang auf zur besten politischen Theatervorstellung der Nation. Dann müssen Nippons Schattenpolitiker auf die Bühne treten und ihre Kräfte messen. Am Ende hat Japan einen neuen Premierminister. Des Stückes letzter Akt fand nach der traditionellen politischen Dramaturgie am gestrigen Sonntag an, als die liberal-demokratische Regierungspartei (LDP) ihren neuen Vorsitzenden wählte, dem seit 1955 automatisch das Amt des Regierungschefs zufällt. Der glücklich Auserkorene: der frühere Außen- und Finanzminister Kiichi Miyazawa.

Die Tage vor der Wahl des neuen Premierministers sind die aufregendsten in der japanischen Politik. Denn jetzt erfährt das Land, wer wirklich herrscht und über die Macht verfügt, die Regierung zu ernennen. Wer unter den Fraktionspitzen der Partei verbeugt sich vor wem am tiefsten? Wer lädt wen zu sich? Wer bietet schließlich wem seine Unterstützung im Rennen um den Chefposten an? Das läßt besser als jede Wahl erkennen, wer hinter den Kulissen die Fäden zusammenhält. Das Votum der japanischen Kritiker in diesem Jahr war einhellig: Hinter dem neuen Aushängeschild der Nation, Kiichi Miyazawa, wird auch in den nächsten zwei Jahren Shin Kanemaru, der 77jährige Vorsitzende der größten Parlamentsfraktion innerhalb der LDP, die japanische Politik dominieren.

Shin Kanemaru ist im westlichen Ausland kaum bekannt. Doch für die Japaner gilt er gemeinhin als der mächtigste Mann im Land. Die führende japanische Wirtschaftszeitung 'Nihon Keizai Shinbun‘ krönte Kanemaru unlängst zum „Deng Xiao Ping Japans“. Die Tageskommentatoren bezeichnen ihn ehrfürchtig als „Don“, als eine Art „Übervater“ der japanischen Politik. Er selbst aber behauptet von sich, längst in Pension zu sein, und für den Rest seines Lebens lediglich der Nation mit gutem Rat zur Seite zu stehen. Ganz selten nur blitzt die Klinge seiner Macht in den wenigen Worten durch, die er öffentlich verkündet: „Solange Herr Miyazawa sein Leben der Nation andient,“ bemerkte Shin Kanemaru vor wenigen Tagen, „werde auch ich es ihm gleichtun.“ An der Botschaft des Parteiseniors konnte kein Japaner zweifeln: Solange Miyazawa die Regierung führt, wird Kanemaru hinter ihm stehen.

Vielleicht liegt es auch an seinem so gar nicht anziehenden Äußeren, daß der Westen Kanemaru bis heute übersieht. Noch immer erinnern sein kurzer Nacken und die breiten Schultern an den in der Jugend erfolgreichen Judokämpfer. Doch nun verleiht das Alter seiner Figur eine undurchdringliche Starre. Wenn er spricht, dann bellt er in abrupter Sprache, meist nur jenen verständlich, die seine Befehle empfangen. Kein Wunder, daß er niemals aus eigenem Willen vor die Fernsehkameras tritt.

Shin Kanemaru fiel die Macht nicht in den Schoß. Sein Vater war ein einfacher Sakebrauer in der Provinz. Er selbst studierte im Landwirtschaftskolleg. Noch im hohen Alter fehlen Kanemaru die feinen Allüren des Tokioter Establishments. Seinen Sommerurlaub verbringt der Pensionär wie viele neureiche Japaner regelmäßig auf Hawai. Erst als Kanemaru in den fünfziger Jahren der Partei beitrat, mit 44 Jahren einen Parlamentssitz erwarb und in die Dienste des späteren Premierministers Kakuei Tanaka trat, entwickelte er seine unverwechselbaren Fähigkeiten. Fortan nämlich organisierte Kanemaru Tanakas erfolgreichste Wahlkampagnen, er knüpfte die besten Kontakte zu den zahlungskräftigen Unternehmern und sammelte die meisten Parteigelder. Kanemaru lernte schnell, sich für seinen mächtigen Gönner unentbehrlich zu machen. Im Parlament erkämpfte er sich den Ruf, ein brillanter Verhandlungsführer zu sein. Als sein Ziehvater Kakuei Tanaka 1972 Premierminister wurde, trat Kanemaru erstmals einer Regierung bei — als Bauminister.

Auf Geld und Beziehungen baute Kanemaru auch weiterhin sein Imperium. Fortan übernahm er immer nur jene Ministerien, mit deren Geldern er seinen Einfluß vermehren konnte. Im Bau-, Post- und Verteidigungministerium verfügte Kanemaru nacheinander über Staatsbudgets von denen ganze Industriebranchen abhängig sind. Nie wurde er Finanzminister, weil er dort knausern müßte, nie Außenminister, weil die Diplomatie zwar viel Ehre, aber nie Geld und Macht verschaffen kann. Immer verzichtete er auf den äußeren Glanz der Macht, um seinen Einfluß im Inneren von Politik und Wirtschaft zu stärken. Das schützte ihn vor Leichtsinnigkeit. Schon 1974 stürzte Tanaka über den Lockheed-Bestechungsskandal. 15 Jahre später mußte Premierminister Noboru Takeshita unter dem Druck des Recruit-Cosmos- Skandals um Aktien-Insidergeschäfte zurücktreten.

Die beiden großen politischen Skandale der Nachkriegszeit warfen jeweils ganze Generation von Politikern über Bord. Nur einer stand felsenfest in der Brandung: Shin Kanemaru, der Raffinierteste von allen, dem man nur einmal, im Juli 1980, bei einer folgenlosen Steuerhinterziehung erwischte.

„Seit dem Sturz Tanakas,“ beobachtet der Tokioter Politologieprofessor und Starkommentator Masayuki Fukuoka die unsichtbaren Herrscher, „hat es in Japan nur noch Schattenregierungen gegeben, deren Befehlshaber sich im Hintergrund versteckt hielten. Sogar Yasuhiro Nakasone, der im Ausland sehr bekannt war, spielte zu Hause keine große Rolle. Man sprach damals von der Tanakasone-Regierung.“ Tanaka sei zwar 1974 zurückgetreten, habe aber bis 1985 über die Vergabe der Regierungsämter einschließlich des Premierministers bestimmt.

Als Tanaka 1985 schwer erkrankte, begann eine neue Schattenherrschaft. Das Tandem Kanemaru/ Takeshita übernahm in diesem Jahr Tanakas Hausmacht in der LDP. Das Erbe wurde aufgeteilt. Noboru Takeshita erbte Tanakas offizielle Ämter und den Fraktionsvorsitz und wurde 1987 zum Premierminister ernannt. Kanemaru aber erbte Tanakas Beziehungsnetz, seine Geldquellen und persönlichen Freundschaften und regierte fortan als „Shogun des Schattens“ ('Le Nouvel Observateur‘).

Noboru Takeshita und Shin Kanemaru waren schon früh ein scheinbar unzertrennliches Bündnis eingegangen: 1966 verheiratete Kanemaru seinen ältesten Sohn mit Takeshitas ältester Tochter. Doch auch das Familienband gemeinsamer Enkelkinder hielt der Politik nicht mehr stand, als Takeshita nach seinem erzwungenen Rücktritt im Mai 1989 die Rolle des Regisseurs im Hintergrund einnehmen wollte. Zum ersten Mal trat Takeshita in Konkurrenz zu Kanemaru.

Der Kampf währte nicht lange, und Kanemaru entschied ihn für sich. Premierminister Sosuke Uno, ein Takeshita-Mann, blieb nur drei Monate im Amt und wurde im August 1989 von Kanemaru durch Toshiki Kaifu ersetzt. Eine für japanische Politiker sonst harmlose Geisha-Affäre lieferte Kanemaru den Vorwand, Uno abzusetzen. Auch in der Partei setzte sich Kanemaru gegen Takeshita durch und übernahm im Herbst 1989 den Fraktionsvorsitz von seinem Widersacher. Noch einmal, im Sommer dieses Jahres, versuchte es Takeshita mit Kanemaru aufzunehmen, jedoch wieder erfolglos. Denn Kanemaru hatte inzwischen den erst 49jährigen Ellbogenpolitiker Ichiro Ozawa zu seinem Nachfolger als Fraktionschef auserkoren. Sogar von liberalen Kritikern, die sich gegen die Vergreisung der japanischen Politik zur Wehr setzen, erntet Kanemaru dafür höchstes Lob. „Kanemaru ist der einzige“, begeistert sich der Regierungskritiker Hiroyuki Itami, ein ehemaliger Stanford-Professor, „der der japanischen Politik eine Chance für Veränderung bietet, denn er setzt sich effektiv für einen Generationswechsel an der Regierungsspitze ein.“

Das Spiel mit der Jugend treibt Kanemaru freilich auch zum eigenen Zweck. Bevor in der LDP ein Premierminister bestellt wird, erläutern die Kandidaten vor den Fraktionsvorsitzenden ihr Programm, um deren Unterstützung zu gewinnen. Doch Kanemaru verzichtete vor wenigen Tagen auf diese Anhörungen und schickte stattdessen seinen Junior Ozawa zum Gespräch mit Miyazawa und den übrigen Anwärtern. Für die Kandidaten geriet dies zu einer beispiellosen Demütigung, da sie allesamt einem jüngeren ihre politischen Geheimnisse preisgeben mußten. Kanemaru demonstrierte vor dem ganzen Land, zu welcher Entblößung sich der zukünftige Regierungschef hingab, um den Segen des alten Fraktionsvorsitzenden zu bekommen.

Mit solchen Schachzügen, bei denen es für die Nebenbuhler immer um ihre politische Existenz geht, erregt Kanemaru regelmäßiges Aufsehen. Wegen seiner politischen Meinung oder gar Moralvorstellungen ist der Kulissenkönig noch nie aufgefallen. Zwar gilt er gemeinhin als Nationalist und Rechtskonservativer. Im 'Wall Street Journal‘ schrieb er bereits im Oktober 1981: „Japan muß nun endlich selbstständig in der Lage sein, Krieg zu führen. (...) Eine starke nationale Führung, der die japanische Gesellschaft so sehr entbehrt, müßte patriotische Gefühle und den Geist nationaler Verteidigung heranbilden.“ Doch als Kanemaru Mitte der achtziger Jahre im Parlament die Hilfe der Opposition benötigte, war er der erste unter den LDP-Größen, der sich auf die Begrenzung des Verteidigungsbudget auf unter ein Prozent des Bruttosozialprodukts festlegen ließ. Auch in dem mit viel nationalistischer Ideologie beladenen Streit um die Kurileninseln mit der Sowjetunion advokierte Kanemaru als erster einen neuen Pragmatismus. Im Mai 1990 schlug er vor, der Sowjetunion zwei Inseln einfach abzukaufen. Die Empörung in seiner Partei war dann allerdings so groß, daß Kanemaru Tage später seinen Vorschlag zurückzog.

Shin Kanemaru ist also nicht nur Innenpolitiker. Seine Fähigkeit, die Geldflüsse innerhalb von Regierung und Partei zu kontrollieren, machen ihn zu einem der einflußreichsten Politiker der Welt. Im Frühjahr setzte er gegen alle Widerstände in Regierungspartei und Opposition die Zahlung der japanischen Golfkriegszahlungen an die USA durch. 13 Milliarden Dollar, eine beispiellose Summe, brachte Kanemaru zusammen — jedoch nicht aus Lust am Golfkriegsschauspiel, sondern weil er die Regierung von Premieminister Toshiki Kaifu retten wollte. Während der Kriegsmonate am Golf warteten sowohl die Opposition als auch die innerparteiliche Konkurrenz nur darauf, Kaifu zu stürzen. Kanemaru hätte den Regierungswechsel zu dieser Zeit kaum so sorgsam wie heute inszenieren können.

„Wenn ich Premierminister würde, wäre das für Japan nur peinlich,“ prophezeite Kanemaru rechtzeitig. „Kanemarus Genie“, definiert der in Tokio lebende chinesische Politologe Ng Yuzin Chiatong, „lag darin, daß er die Sänfte nie besteigen wollte. Heute ist er ihr Träger.“ Kanemaru verzichtete auch auf das verlockende Rampenlicht der Weltpolitik. Besonders mit westlichen Politikern vermied Kanemaru alle Kontaktmöglichkeiten. Seine offiziellen Reisen führten ihn wiederholt nach Taiwan, China und in beide Koreas, wo den Regierenden der politische Stil Kanemarus vertraut ist — die USA aber besuchte Kanemaru offiziell nur einmal notgedrungen, als Verteidigungsminister.

Besser als jeder andere typisiert Kanemaru damit den Machtpolitiker asiatischer Prägung, der alle politischen Gesetze des Westens unterläuft. Er hält keine Reden, er braucht keine Publicity, sogar für sein eigenes Volk bleibt er die meiste Zeit unsichtbar.

„Normale Bürger,“ entrüstete sich vor wenigen Tagen eine 70jährige Leserin der Tageszeitung 'Asahi Shinbun‘, „erfahren nur durch Zeitungen und Fernsehen, was in der Politik geschieht. Wer eigentlich ist dieser Herr Kanemaru? Warum verhält er sich so unhöflich gegenüber Herrn Miyazawa, der doch Premierminister sein wird? Mir scheint, daß so ein Mann wie Herr Kanemaru, der nie selber kandidiert und nur hinter dem Rücken von anderen seine Mächte ausspielt, das Gegenteil von dem bezweckt, was Demokratie eigentlich will.“ Solches Entsetzen vor dem normalen Gang der japanischen Politik macht in Nippon dennoch eher die Ausnahme. Geradezu reaktionslos hatte die Öffentlichkeit Anfang Oktober hingenommen, wie der populärste Regierungschef Japans seit Kriegsende, Toshiki Kaifu, im Handstreich von Shin Kanemaru aus dem Kandidatenrennen geworfen wurde. Das Austauschmänöver an der Regierungsspitze war dennoch ein wohlüberlegter politischer Schachzug. Vor zwei Jahren hatte Kanemaru mit Kaifu einen neuen Mann an die Parteispitze gestellt, der durch seine Ehrlichkeit das Vertrauen des Volkes wiedergewann. Denn zur Zeit seiner Ernennung, im August 1989, waren mit der Ausnahme Kanemarus sämtliche Spitzenpolitiker der LDP in Insidergeschäfte an der Börse verstrickt. Damals verlor die LDP eine wichtige Oberhauswahl.

Inzwischen geht es der Partei besser denn je. Bei Umfragen zählt die stärkste Oppositionspartei, die sozialdemokratische Partei Japans, nur noch annäherend 15 Prozent Unterstützung. Die Skandalstürme haben sich gelegt. Statt eines Saubermanns wird nun ein Diplomat verlangt. Denn im September veranschlagte Japan den höchsten monatlichen Handelsüberschuß aller Zeiten; ein neuer Handelsstreit mit dem Westen steht bevor. Die Beziehungen Japans zur Sowjetunion stehen vor einer historischen Wende, nachdem sich Tokio im Oktober erstmals zu bedeutenden Kreditzahlungen an Mokau bewegen ließ. Mit Kiichi Miyazawa wird Japan nun über einen Verhandlungsprofi an der Staatsspitze verfügen, der den international immer lauter werdenen Forderungen an die Wirtschaftssupermacht mit persönlicher Entschlossenheit entgegentreten kann.

So zeigte Miyazawa bereits Profil: „Wir haben fast alles getan, was wir tun können,“ warnte Miyazawa am vorigen Freitag, „aber irgendwie wird das Handelsdefizit mit den USA nicht besser.“ Damit wird bereits deutlich, wie gut Miyazawa in die ihm von Kanemaru zugedachte Diplomatenrolle passt. Doch gleichzeitig fällt mit den ersten Probeschritten des zukünftigen Premierministers auch der Vorhang über die japanische Politik. Der Schattenkönig verläßt nun wieder die Bühne. Shin Kanemaru wird erst in zwei Jahren wieder erscheinen — wenn er bis dahin nicht gestorben ist.