Über die Schwierig- keiten des Erinnerns

In Frankfurt am Main fand in der vergangenen Woche ein großangelegtes Hearing als Vorbereitung für die Einrichtung eines nationalen „Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust“ statt. Diese Idee des ehemaligen Frankfurter Oberbürgermeisters Hauff soll auch eine öffentliche Reaktion auf jene offensichtliche Blindstelle im Gedächtnis der Bundesrepublik sein, die der Holocaust und das Funktionieren der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie sind. In weiten Teilen hat dieses Hearing sin Ziel allerdings verfehlt — und damit nicht zuletzt die ganz prinzipiellen Schwierigkeiten bestätigt, die die Bundesrepublik mit dem Erinnern — im Unterschied zur geschichtlichen Aufarbeitung — hat.  ■ VON ULLI HAUSMANN

Es ist in der Geschichte der Menschheit nicht gerade der übliche Fall, daß man die Schandtaten der Vorfahren erinnert, ihnen Gedenkstätten und Denkmale setzt. Im Gegenteil. Normalerweise werden sie geschleift, um mit ihnen auch die Erinnerung an die (aus der Sicht der Späteren:) Verbrechen auszulöschen, wie wir gerade mit Marx und Lenin erleben (der Kunsthistoriker Detlef Hoffmann). Das Frankfurter Kulturdezernat hat sich mit seiner Initiative für ein großangelegtes Lern- und Dokumentationszentrum zum Holocaust nichts Geringes vorgenommen.

Die Idee geht auf den ehemaligen Frankfurter „Großbürgermeister“ — wie Yeshayahu Weinberg, Direktor des US Holocaust Memorial Museum in Washington, mit einem lustigen Versprecher sagte — zurück. Der hatte sich bei der Rückkehr von einer Israelreise und einem Besuch bei Yad Vashem, jenem Zentrum des Holocaust in Tel Aviv, das heute die größte Sammlung von Zeugnissen über die Massenvernichtung der europäischen Juden besitzt, stark beeindruckt gezeigt und angekündigt, es sei an der Zeit, etwas Ähnliches auch in Deutschland einzurichten.

Und so nahm die Sache ihren Lauf, die jetzt vom 23. bis 25. Oktober zu einem ersten, mit beträchtlichem Aufwand vorbereiteten Hearing über ein geplantes „Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust“ in Frankfurt führte. Geladen war eine große Zahl prominenter Historiker aus dem In- und Ausland, wobei — unfallbedingt — Raul Hilberg und — wegen erteilter „green card“ in den USA — Saul Friedländer leider absagen mußten. Zu ihnen gesellten sich noch, gewissermaßen zur Erhellung des praktischen Teils, die Vertreter von Gedenk- und Dokumentationsstätten aus dem In- und Ausland. Offensichtliches Ziel der ganzen Veranstaltung war wohl weniger die Diskussion darüber, wie und ob man ein solches Zentrum denn nun machen solle oder könne, sondern die Promotion der Idee nach außen. Dieses Ziel allerdings, das kann man sagen, ist glatt verfehlt worden. Weder wohnte der Veranstaltung, vom Eröffnungstage einmal abgesehen, die politische und gesellschaftliche Prominenz in Frankfurt bei, die ja nun einmal, wenn es um die Einrichtung und Trägerschaft einer solchen Institution geht, von entscheidender Bedeutung ist; noch waren die — ziemlich frei schwebenden — Diskussionen der Historiker am ersten Tage von einem solchen inhaltlichen Niveau, daß dieser Aspekt für sich genommen schon das nötige öffent- liche Interesse auf sich ziehen würde.

Die Veranstaltung wurde am Mittwoch abend durch Volker Hauffs Nachfolger im Amte des Oberbürgermeisters, Andreas von Schoeler, eröffnet, der genau das sagte, was politische Würdenträger mit einiger Intelligenz bei solchen Anlässen immer zu sagen pflegen. Bedeutsam, wichtig, einzigartig, das sind die Adjektive, die Verwendung finden. Und dann flocht er in seine Rede einen bedeutsamen Satz ein: Die Stadt Frankfurt sei bereit, ihren Beitrag zu einem solchen unbedingt notwendigen Zentrum zu leisten, vorausgesetzt Bund und Land täten das ihre. Da aber sind denn doch Zweifel ob der Realisierung angebracht. Das Land Hessen ist pleite, und ob der Bund, der im Augenblick alles Geld in die neue Hauptstadt pumpt, willens wäre, ein Holocaustzentrum mitzutragen, ist doch sehr fraglich. Also müßte es die Stadt zunächst einmal selber machen.

Diskussion unter „doctores et professores“

Die eigentliche Eröffnungsrede hielt ein sichtlich ermatteter Hans Mommsen, sei es, weil er gerade von der Eröffnung der Anne-Frank-Ausstellung in Santiago de Chile zurückgekehrt war oder weil ihn das schlechte Gewissen ob seiner — erst vor ein paar Tagen abgegebenen — Auftragsstudie für Volkswagen plagte, mit der die Begründung für die Nicht-Entschädigung der Zwangsarbeiter geliefert wird. Mommsen wägte und wog, und neben allen Seitenaspekten kam unter dem Strich schon das Bild einer deutschen Historiographie in der Nachkriegszeit heraus, die zunächst den Nationalsozialismus überhaupt als Gesamtphänomen zu vernachlässigen trachtete, die sich dann aber mit den Arbeiten von Bracher und „hervorragenden landeskundlichen Arbeiten“ dem Problem zugewandt habe, wenngleich der Holocaust selbst als eigentlicher Kern des nationalsozialistischen Regimes vielleicht doch hier und da ein wenig ausgespart worden sei. Auf jeden Fall dürfe der Versuch des Verstehens nicht von vornherein ausgeschlossen werden, denn dann würde man den rationalen Anspruch aufgeben. Was folgte, war eine Diskussion unter dem Motto „doctores et professores“, die eine überzeugende Begründung dafür geliefert haben dürfte, unter allen Umständen zu verhindern, daß dieses Zentrum den Historikern, gleich ob alten Lehrstuhlinhabern oder jungen Karrieresprintern, in die Hände fällt. Einzig Monika Richarz von der Germania Judaica hob sich wohltuend konkret von den Überfliegern ab und ließ Interesse an der Sache, nämlich daran erkennen, wie sich so ein Zentrum in den geistesgeschichtlichen und kulturellen Kontext einbettet und wie es arbeiten könnte. Sie unterstrich den — zugegebenermaßen problematischen — Wert von Lokalgeschichte, die sich auch in unveröffentlichten Berichten niederschlägt — von denen die Germania Judaica inzwischen Tausende gesammelt hat. Zum Beispiel die des Pfarrers von Luckenwalde, der der Bibliothek seine ganz persönliche Recherche über das Schicksal der Juden seines Ortes zur Verfügung gestellt hat. Schließlich plädierte Professor Freudenberg dafür, Sinti und Roma nicht auszuschließen.

„Historikerdebatte“ mit umgekehrten Vorzeichen

Eine „Historikerdebatte“, wenn man so will mit umgekehrten Vorzeichen, prägte auch noch den überwiegenden Teil des nächsten Tages. Die Extrempunkte wurden dabei von zwei Teilnehmern markiert, die sich in politischen Fragen der Gegenwart möglicherweise näher stehen als die meisten anderen auf dem Podium. Auf der einen Seite vertrat Dan Diner im Anschluß an Hannah Arendt seine These vom Holocaust als Zivilisationsbruch, der sich einer Sinngebung oder einem Kalkül entzieht. Auf der anderen Seite Götz Aly mit seiner These, auch die Auslöschung der Juden in den Vernichtungslagern lasse sich, zumindest teilweise, deuten, wenn man die — malthusianischen — bevölkerungspolitischen Zwecksetzungen der Planer des NS- Regimes in die Überlegungen einbeziehe.

Immer wenn eine Forschergemeinschaft es mit einem neuen Paradigma zu tun hat, neigt sie dazu, sich strukturkonservativ zu verhalten: Um die Begriffsunschärfe abzuwehren, die sich durch die Einbeziehung des neuen Paradigmas ergäbe, zieht sie die Mauern der Abwehr hoch, sprich: sie neigt zur Dogmatisierung. So wird bei Dan Diner das, was bei Hannah Arendt Skepsis war, bisweilen fast in den Rang des Tabus erhoben. Umgekehrt neigen die Vertreter des neuen Paradigma, eben um dessen Notwendigkeit zu unterstreichen, dazu, ihre Hypothese zu einer möglichst allumfassenden auszubauen — im Grenzfall zu einer „catch-all-Hypothese“. Und gewiß gibt es solche Züge in den Thesen von Götz Aly. Allerdings, neu war auch diese Debatte nicht. Sie ist bereits seit Jahren in verschiedenen Zeitschriften dokumentiert. Richtig und wichtig allerdings bleibt der Hinweis, daß ein zu gründendes Lern- und Dokumentationszentrum über den Holocaust nicht schon in seinem Entstehen durch Tabuisierungen beschädigt werden darf. Es muß — und wird vermutlich — so sein, wie in der Debatte Micha Brumlik sagte: Die Thesen sind jetzt da, nun müssen sie, gewissermaßen im geschäftsmäßigen Gang der Historiographie, geprüft und abgeschätzt werden. Dann wird man sehen, was sie taugen. Die Geschichtswissenschaft enthält nicht in sich die Kriterien einer gesellschaftlich-ethischen Abwägung. Sie muß den Holocaust genau so wie den Bankenkrach behandeln.

Eine bessere Vorbereitung seitens der Organisatoren des Hearings hätte zu einer Konzentration auf die Sache selbst, auf Sinn und Zweck eines solchen Zentrums, beitragen können. Hinweise darauf blieben zunächst vereinzelte Einsprengsel in der Diskussion. So der Hinweis des katholischen Theologen Johann Baptist Metz auf die Notwendigkeit einer „anamnetischen Rationalität“, die immer auf ein Vermissen ziele: „Wo nichts mehr vermißt wird, kann der Mensch nicht mehr gewußt werden.“ Oder der eine oder andere Kommentar zur Opportunität der Namensgebung. Insbesondere die Idee des „offenen Lernorts“ stieß auf keine große Gegenliebe.

Erst am Abend mit dem Vortrag von Lutz Niethammer (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) änderte sich das. Er rückte die Fragen des „kollektiven Gedächtnisses“ und die Tatsache, daß in Deutschland eine „Renationalisierung“ als Bezugsrahmen für das Nachdenken über sich selbst unausweichlich scheint, ins Zentrum. Letzteres für ihn übrigens ein Grund, daß das geplante Zentrum sinnvollerweise seinen Sitz in Frankfurt (und nicht in Berlin) haben sollte. In der „Instutionalisierung des nationalen Gedächtnisses“ könne das Zentrum „eine gut plazierte Außenseitersituation einnehmen, wenn sie denn wirklich gewollt wird“.

Was will man mit dem Zentrum?

Im Hinblick auf die Einrichtung interessanter waren die Gesprächsrunden des letzten Tages, bei denen es um den Erfahrungsaustausch über die Arbeit von Dokumentationszentren, Museen und Gedenkstätten im In- und Ausland ging. Vor allem wurde sichtbar, wie wenig klar ist, was man eigentlich will, mit diesem Zentrum. Ein Museum, eine Gedenkstätte, eine Forschungseinrichtung? Klein, oder groß, von nationaler Bedeutung wie es Volker Hauff wohl vorschwebt? Es gab von den Initiatoren keine klaren Vorgaben, an denen man sich hätte abarbeiten können; und so ging es in der Diskussion vom, zynisch gesagt, Rollenspiel an der Rampe (E. Lucas-Busemann) bis hin zu den klugen Bemerkungen von Edna Brocke (Alte Synagoge Essen) über die zwangsläufig asymmetrische Erfahrung von Juden und Nichtjuden angesichts von Einrichtungen wie der wiedererrichteten Synagoge, die auch als Gedenkstätte fungiert. Wo ein Mensch jüdischen Glaubens oder mit jüdischem Hintergrund zwangsläufig einen liturgischen Bezug herstellen kann, sieht ein Christ nur das Museale. Der einzig klare Punkt war vielleicht, daß das Zentrum auch eine Stätte zweckfreien Gedenkens sein und eine im weitesten Sinne pädagogische Funktion haben sollte.

Eine gesonderte Bemerkung verdienen die Diskutanten aus den neuen Bundesländern. Wenn in der Diskussion einmal angemahnt wurde, es seien zu wenig Vertreter anwesend, so muß man sich doch andererseits fragen: Die Veranstaltung war ohnedies schon ziemlich „heavy“, muß man sich da unbedingt noch einen Maaz mehr, diesen Ammon der 90er Jahre, antun? Oder einen Klaus Drobisch, der, getreu der alten SED-Maxime „Überholen, ohne einzuholen“ einem staunenden und sichtlich unwirschen Publikum die Erfolgsliste von DDR-Publikationen zum Holocaust auftischt?

Wie immer, wenn es um Großprojekte geht, die in irgendeiner Weise aus öffentlichen Töpfen sich bedienen müssen, gibt es die Konkurrenz der Initiativen. Die kleinen schimpfen auf die großen, man kennt das von den Debatten über städtische Opern bis hin zur Konkurrenz zwischen freien und öffentlichen Trägern in der Sozialarbeit. Und es ist mit Sicherheit nicht so, daß immer die eine oder die andere Seite recht hat. Auch im Vor- und Umfeld dieser Initiative mangelte und mangelt es nicht an Eifersüchteleien. Inwieweit sie berechtigt sind, ist schwer zu entscheiden. Sicher aber ist, daß, wenn ein solches Zentrum denn geschaffen werden sollte, man nicht umhinkäme, sich zumindest mit jenen lokalen Initiativen ins Benehmen zu setzen, die über Akten und archivalische Bestände verfügen. Man kann sich ein Lern- und Dokumentationszentrum zum Holocaust, selbst wenn es als nationales konzipiert wird, kaum sinnvoll arbeitend vorstellen im totalen Konflikt mit dem Ort, als eine Kathedrale in der Wüste. Vielleicht ist ja sinnvoll, den am Rande der Tagung geäußerten Vorschlag aufzugreifen und eine Kommission von außen einzusetzen, die die verschiedenen Projekte evaluiert. Wenn nämlich von den Vertretern lokaler Initiativen hinter vorgehaltener Hand immer wieder Kritik an dem „Megaprojekt“ vorgebracht wurde, so ist auf der anderen Seite merkwürdig, daß diese Kritik — mit Ausnahme der Intervention einer grünen Stadtverordneten — nicht zur Sprache gebracht wurde. Die Chance dazu hätte es gegeben.

Den Initiatoren des Hearings aber, so ihnen nicht nur am institutionellen Selbstlauf, sondern an der Sache gelegen ist, kann man nur den Rat geben, noch einmal in Ruhe und ohne großen Rummel und Publicity all das zu besprechen, was eben nicht zur Sprache kam. Und ohne daß ein solches Projekt nichts weiter wäre als eine hypertrophe Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.