Kyrie mit verzerrter Gitarre

■ Uraufführung des experimentellen Oratoriums „Hanseatica“ auf dem Vulkan

In der Vegesacker Halle des Jugendkutterwerks strich am Samstag Abend ein Urwind vielstimmig um Schiffsrümpfe und pfiff durch Stahltreppen. Drei atmende Chöre aus Bremen zischten und atmeten stoßweise-hektisch in die Mikrophone, unterbrochen durch die blitzschlag- ähnlichen Bläsereinsätze der Jazz-Avantgardisten vom Kroß- Orchester: die „Hanseatica“ wurde uraufgeführt.

Die Bremer Komponisten Peter Apel und Hartmut Emig hatten MusikerInnen aus normalerweise streng voneiander getrennten Szenen zusammen auf die Bühne gebracht: den Arberger Chor und den Begu-Chor aus Lemwerder. Dazu den Shanty-Chor „Hart Backbord“, der sonst mit gewerkschaftlicher Orientierung Seemannslieder auf Streikversammlungen singt und die experimetelle Jazz-Combo Kroß-Orchester mit Musikern aus Hamburg und Bremen. Für alle war das dramatische Oratorium ein gelungenes Experiment: Die musikalischen Markenzeichen vermischten sich bisweilen hart bis an die Grenze der Unkenntlichkeit, wodurch faszinierende Klangbögen entstanden, die die 100 ZuhörerInnen in der zugigen Fabrikhalle der Vulkan-Werft ihre eiskalten Füße vergessen ließen und sie zu stehenden Ovationen hinrissen.

Aufgebaut war das Oratorium in der Art einer Zeitreise. Beginn: Der gregorianische Liturgiegesang Kyrie Eleison. Das flehende „Herr, erbarme Dich“ begleitete Peter Apel auf seiner E-Gitarre, unterstrich mal zart, mal hart die Melodie, ließ dem Begu-Chor den Vortritt, um dann mit verzerrten Gitarrenklängen dazwischenzuhauen, die Jimi Hendrix beim Schlußakkord alle Ehre gemacht hätten.

Das Tu pauperum refugium, den Lobgesang an Jesus Christus aus dem 15. Jahrhundert — „Du Zuflucht der Armen, Erquickung der Müden“ — sangen die Chöre ohne Jazz-Begleitung. Prinzip des Oratoriums war es, die Repertoires der Gruppen zur Grundlage zu nehmen und diese durch Neukompositionen „zusammenzunähen „ (Emig) oder zu verändern. Beim friesischen Arbeiterlied brach „Hart Backbord“ zu gänzlich neuen Ufern auf und wippte mit im Jazz-Rhythmus von Schlagzeuger Dieter Gostischa.

Unübertroffen das musikalisch umgesetzte Geständnis der Katherina Bruch, die im Jahre 1611 unter der Folter bekennen mußte, den Teufel persönlich geheiratet zu haben: Der schrille Chorgesang — kaum verständlicher Text — erfüllte die Montagehalle vom Betonboden bis zum Stahldach. Wahnsinnige Paukenschläge und Variationen der Saxophonisten, schließlich ein irres Durcheinandergebrabbel aller SängerInnen und Musiker: Chaos, Daumenzwingen, brechende Knochen.

Mit Es geht eine dunkle Wolk herein ging die gelungene Reise durch die Zeiten nicht sehr optimistisch zu Ende, mit ihrem Urwind hauchten die Chöre den Abend aus. Was nicht in der Partitur stand: In der Pause wurde das Stück Zähneklappern wegen Eiseskälte für 100 BesucherInnen, drei Chöre und zwei Komponisten gegeben. Auch dabei gelang es, Grenzen zu überwinden. Alle versammelten sich in dichtgedrängten Gruppen vor zwei Heißluftgebläsen.

Hannes Koch