Im Szeklerland kommt Unruhe auf

Die Ungarn Rumäniens hoffen auf ein autonomes Gebiet in Siebenbürgen  ■ AUS ODORHEIU ROLAND HOFWILER

Sechs Mal täglich fährt die Bummelbahn von Schäßburg (Sighisoara) nach Odorheiu, dem Zentrum des ehemaligen Szeklerlandes. Und wer mit der Bahn in diese fruchtbare Hügellandschaft im Herzen Siebenbürgens reist, der fühlt sich in eine andere Welt versetzt. Hier fühlt sich ein Rumäne fremd und jeder Ungar zu Hause. Und wer im Endbahnhof des 40.000-Einwohner-Städtchens Odorheiu, zu ungarisch Szekely-Udvarhely, aussteigt, der unterläßt es am besten, auf rumänisch nach dem Weg zu fragen. Zumindest in diesen Herbsttagen.

Denn in Odorheiu will man von Rumänien nichts mehr wissen. Hier im Szeklerland ticken die Uhren in Richtung Unabhängigkeit. Die Szekler, eine ethnisch wie sprachlich magyarische Volksgruppe, fühlten sich in der Geschichte des Donau-Karpatenbeckens schon immer als etwas Besonderes. Lange bevor der moderne rumänische Staat 1859 von Alexandru Ioan Cuza ausgerufen wurde, erhielten sie zusammen mit den Siebenbürger Sachsen von den ungarischen Königen als eine eigene „Nation“ Sonderrechte. Für ihre außerordentlichen militärischen Leistungen zur Verteidigung der Ostgrenzen Siebenbürgens vor den Türken wurde ein Teil der eigentlich bäuerlichen Bevölkerung sogar in den Adelstand erhoben. Sonder- und Autonomierechte überdauerten danach die Jahrhunderte, und bis in die heutige Gegenwart bewahrten die Szekler ihre mittelalterlichen Wohngebiete und haben sich als geschlossene Volksgruppe behauptet. Selbst dem Minderheitenhaßer Ceausescu gelang es nicht, die etwa 750.000 Szekler als Teil der „neuen rumänischen Nation“ zu assimilieren oder wie die Deutschen zur Auswanderung zu bewegen.

Über zwei Millionen Ungarn leben derzeit noch im rumänischen Siebenbürgen, doch nur im Szeklerland fühlt sich die magyarische Minderheit unter sich. Selbst die 1956 noch mehrheitlich ungarisch geprägten Großstädte wie Klausenburg (Cluj), Großwardein (Oradea) und Neumarkt (Tirgu Mures) sind durch eine systematische Assimilierungspolitik der Kommunisten heute in rumänische Zentren verwandelt worden. Zwar löste man 1956 auch die zu Stalins Zeiten ausgerufene „Autonome Magyarische Region“ (das ehemalige Szeklerland) auf und beschnitt die politische Autonomie, doch eine begrenzte kulturelle konnte man sich zumindest in den neu entstandenen Landkreisen Harghita, Covasna und Mures erhalten. Zuwenig für die ungarischen Szekler von heute, die fast neunzig Prozent der Bevölkerung in den ersten beiden Landkreisen stellen und die Mehrheit in Mures.

Ihr neuer Hoffnungsträger ist Adam Katona, Vorsitzender des „Demokratischen Bundes der Ungarn“ (RMDSZ) in Odorheiu. Ginge es nach dem 54jährigen Lehrer und seinen zahlreichen Mitstreitern in den umliegenden Dörfern und Kleinstädtchen, so müßte man in den nächsten Wochen ein Referendum abhalten und nach einem positiven Ausgang eine politische Autonomie ausrufen. Eine Idee, die unter den Szeklern immer populärer wird — und den Bukarester RMDSZ-Parlamentariern den Schweiß auf die Stirn treibt. Vor zehn Tagen konnten sie in letzter Minute die unzufriedene Wählerbasis im Szeklerland vor ersten Unabhängigkeitsschritten zurückhalten. Im historischen Agyanyfalva (rumänisch Lutita), unweit von Odorheiu, gedachten Tausende mit Kranzniederlegungen schweigend der ersten Ausrufung einer Szeklerrepublik vom Oktober 1506 und der ebenfalls im Oktober 1848 erfolgten Angliederung des Szeklerlandes an Ungarn. Eine beabsichtigte politische Großveranstaltung mußte abgesagt werden, nachdem die rumänischen Behörden alle Veranstaltungen in diesem Zusammenhang als „staatsfeindliche Akte“ verboten und die Parlamentsfraktion des Demokratischen Bundes der Ungarn die Wählerbasis aufforderte, jede Form von unnötiger Provokation zu unterlassen. Ihre Warnung: „Über ein autonomes Gebiet zu diskutieren, ist zum jetzigem Zeitpunkt selbstmörderisch.“ Wie angeheizt die Spannungen zwischen Rumänen und ungarischer Minderheit in der Tat sind, zeigen allein die Schlagzeilen in der rumänischen Presse, die sehr ausführlich die politische Radikalisierung der Szekler ins Visier nehmen: „Neuer Höhepunkt des ungarischen Seperatismus!“, „Rumänen, verteidigt Euer Siebenbürgen!“, aber auch „Ungarn erhebt erneut Ansprüche auf rumänisches Territorium!“

Hintergrund dieser Medienkampagne ist ein 137 Seiten dickes Weißbuch unter dem Titel Die Vertreibung der Rumänen aus Harghita und Covasna, das jüngst dem Bukarester Parlament vorgelegt wurde. Aufgezeigt werden darin unzählige Fälle, in denen Rumänen im Szeklergebiet daran gehindert wurden, Land zu kaufen, eine Arbeitsstelle zu finden und die rumänische Sprache im öffentlichen Leben zu verwenden. Alltägliche Schikanen, die einem tatsächlich in Odorheiu widerfahren können. Niemand kann dies abstreiten.

Nur die Vorgeschichte darf man nicht vergessen: Zur Ceausescu-Zeit wurde ein Großteil der Beamten, Lehrer und Fabrikdirektoren ausgetauscht. Anstelle von ungarischen Szeklern kamen Rumänen aus entfernten Gebieten, die weder mit der Mentalität noch der Geschichte des Szeklerlandes vertraut waren. Ungarischsprachige Ortstafeln und Inschriften verschwanden, lokale Radiostationen wurden abgeschaltet und in jedem Dorfzentrum wurde eine rumänisch-orthodoxe Kirche errichtet, auch wenn es keine Gläubigen gab, die dieser Konfession angehörten. Mit dem Sturz des Tyrannen kam die Rache. In den ersten Wochen des Umbruchs, im Januar und Februar des Vorjahres, wurden in der Tat einige ehemalige Mitarbeiter der gefürchteten Geheimpolizei Securitate und auch Angehörige der rumänischen Polizei getötet. Ion Coman, oberster Securitate-Chef von Odorheiu wurde schon in den Dezembertagen auf offener Straße erschossen, noch immer ist seine Kommandozentrale ein abgefackeltes Gebäude. Denn auch fast zwei Jahre nach den dramatischen Ereignissen wagte es Bukarest nicht, das verhaßte Haus neu aufzubauen. Doch nun erscheint besagter Ion Coman in dem Weißbuch als „Held“, der ein „unschuldiges Opfer des ungarischen Seperatismus und Chauvinismus“ geworden sei.

An keiner Stelle geht das Weißbuch auf Ausschreitungen gegen die ungarische Minderheit in Rumänien ein. Mit keinem Wort werden die Ereignisse von Tirgu Mures im Frühjahr des Vorjahres, als Rumänen auf Ungarn pogromartig einprügelten und mindestens sechs Menschen ihr Leben ließen, erwähnt. Auch für den Kulturbund „Vatra Romaneasca“ (Rumänische Heimstätte), der in seinen Schriften unverblümt Rassen- und Völkerhaß schürt, findet das Weißbuch nur lobende Worte. Dabei hatte die Vatra Romaneasca in einer programatischen Schrift bereits am 20. Februar 1990 erklärt: „Es ist der Augenblick gekommen, die Probleme der Minderheiten, auf welche Weise auch immer, endgültig, unumkehrbar und sicher zu lösen. Leider wird der heilige rumänische Boden noch immer von den asiatischen Füßen der Hunnen (soll heißen: Ungarn), Zigeunern und anderer Lumpen besudelt. Jagen wir sie gemeinsam aus dem Land!“

Doch nicht allein solche Details führen zu einer Radikalisierung in der ungarischen Bevölkerung. Obwohl die ungarische RMDSZ-Partei nach der Front der nationalen Rettung die größte politische Kraft im Abgeordnetenhaus stellt, bekam sie in der neuen Regierung unter Theodor Stolojan, der nach den jüngsten Protesten der Bergarbeiter Petre Roman im Amt des Ministerpräsidenten ablöste, keinen einzigen der 19 Ministerposten. Man überging die Ungarn schlichtweg. Miniparteichen, die bei den letzten Wahlen weniger als fünf Prozent der Wählerstimmen erreichten wie die „Demokratischen Landwirte“ und die „Ökologische Bewegung“ stellen gleich mehrere Minister. Gab es in den ersten Monaten nach dem Sturz Ceausescus noch ein Ministerium für Minderheitenfragen, so kümmert sich heute außer dem Demokratischen Bund der Ungarn niemand mehr im Parlament für die Anliegen der nationalen Volksgruppen wie die der Deutschen, Roma-Zigeuner, Ungarn und anderer Ethnien. Selbst in der neuen rumänischen Verfassung werden die Minderheiten, die mindestens 15 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, mit keinem Wort mehr erwähnt. Danach ist Rumänien ein „Nationalstaat der Rumänen“.

Selbst so bekannte Persönlichkeiten wie der Temeswarer Bischof Laszlo Tökes, der durch seinen Widerstand im Dezember 1989 Ceausescus Sturz auslöste, oder der Schriftsteller Geza Szöcs oder der ehemalige KP-Vorsitzende der „Autonomen Magyaren Region“, Karoly Kiraly, haben schwindenden Einfluß auf die Mehrheit der Ungarn. Auf dem letzten Parteikongreß des Demokratischen Bundes der Ungarn, der Anfang Oktober in Arad stattfand, war die Spaltung offensichtlich. Auf der einen Seite jene Fraktion, die territoriale und politische Autonomie zumindest im Szeklerland anstrebt, auf der anderen jene Mahner, die mit kleinen Schritten die Rumänen davon überzeugen wollen, daß den Minderheiten mehr Rechte zugestanden werden müssen. Geza Szöcs Grundargument: „Noch hat Rumänien nicht die Stufe einer modernen Demokratie erreicht. Doch kommt die Demokratie, löst sich auch die Minderheitenfrage.“ Adam Katona konterte: „Solange können wir nicht mehr warten, wir haben zulange gewartet, und nichts geschah.“ Und Bischof Tökös ausweichend: „Es ist in Mode gekommen, in Osteuropa verschiedene Arten der Autonomie auszurufen. So ist dies auch in Rumänien kein Tabu mehr. Und man weiß, es gab in der Geschichte ja schon eine Autonomie des Szeklerlandes. Aber vielleicht ist jetzt nicht der richtige Moment, dies erneut zu fordern.“

In der Bummelbahn von Schäßburg nach Odorheiu fragen wir die Reisenden, was ihre Vostellungen sind. Nein, es ist keiner dabei, der nicht von einer politischen Autonomie träumt. Eine ältere Marktfrau bringt es auf den Punkt: „Der Herr Bischof ist ein lieber Mensch, aber er versteht nicht, was uns bedrückt. Warum sollen wir uns noch gedulden? Hatten wir je Gutes aus Bukarest zu erwarten?“ Wir fragen in Odorheiu den Korrespondenten des überregionalen ungarischen Tagblattes 'Romania Magyar Sol‘, Jozsef Birocs, weshalb seine Hauptredaktion in Bukarest nicht auf diese Stimmen im Szeklerland eingeht. Er, der Intellektuelle, weicht aus: „Die einfachen Menschen, die verstehen doch nichts von Politik. Leute wie Adam Katona sind Rattenfänger und bedenken nicht die Konsequenzen. Oder wollen Sie einen Bürgerkrieg?“ Wir haken nach: „Aber im Szeklerland da verlangen doch die Menschen nach Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit.“ Ja, er wisse es, gibt der Journalist nach längerem Schweigen zu und fragt zurück: „Sehen Sie noch eine Chance, daß man in Siebenbürgen einen Bürgerkrieg zwischen Rumänen und Ungarn verhindern kann?“