Der brennende Mann vom Stuttgarter Platz

Im Schlaf wurde der Obdachlose Dieter R. auf einer öffentlichen Herrentoilette mit brennbarer Flüssigkeit übergossen und angezündet/ Mit schweren Verbrennungen liegt er nun im Krankenhaus — nach Jahren wieder in einem Bett mit Laken  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Lokale am Stuttgarter Platz. Der Bordeaux kostet sechs Mark pro Glas; keine billige Musik stört den intellektuellen Redefluß; gegen Mitternacht ist kaum mehr ein Stehplatz zu bekommen. 30 Meter von der Metropolitan-Idylle entfernt steht eine öffentliche Bedürfnisanstalt. Es ist eines der letzten Relikte des Rotlicht- Milieus am „Stutti“. Abschlagstelle für befriedigte Freier, Schwarzhändler, Kontakthof für jugendliche Stricher. Manchmal in den kalten Nächten breiten Obdachlose ihre Pappen neben den Pissoir-Becken aus, schützen sich mit Decken, herausgeklaubt aus den Altkleidersammlungen, gegen den Wind von draußen.

In der Nacht zum Sonntag, kurz vor Mitternacht, klappt die Tür auf, Unbekannte werfen einen Behälter mit brennender Flüssigkeit auf ein Bündel Mensch, das da lag und versuchte zu schlafen — mit vielen Promille im Blut. Der Mensch schreit, Sekunden später steht er in Flammen, verheddert sich im Schlafsack, im Mantel. Zwei Männer, sind es die Flammenwerfer oder andere, ziehen den brennenden Mann auf die Straße und rennen davon. Eine Passantin ruft um Hilfe, Streifenpolizisten eilen herbei, reißen dem Mann die Kleider vom Leib, retten dem Mann das Leben, der verbrannt wäre im letzten Rest von eigenem Wohlstand. In vier übereinandergezogenen Hemden, zwei Pullovern, zwei Mänteln. Der Mann kommt in die Klinik, Urban-Krankenhaus, Abteilung Plastische Chirurgie. Der Rücken ist verbrannt, beide Hände, und das schwer. Die Polizei sagt, 15 prozentige Hautverbrennungen, zweiten und dritten Grades. Der dritte Verbrennungsgrad ist der schwerste, die Regenerationsfähigkeit der Haut ist zerstört.

Der Mann, angezündet von Unbekannten, liegt jetzt seit Jahren zum erstenmal wieder zwischen Laken. „Wenn nur die Schmerzen nicht wären“, sagt er und versucht sich in die Kissen zurückzulegen, „ich bin ja obdachslos.“ Gegen das Händeflattern und die Entzugserscheinungen haben die Ärzte ihm sedative Mittel gegeben. Gegen den Brand, Tee und Milch in einer Schnabeltasse, anstatt Schnaps und Bier aus der Flasche. Der Mann heißt Dieter R., ist 52 Jahre alt. In den Sommernächten rollt er sich auf einer Bank im Lietzenseepark zusammen, einer kleinen Oase nahe dem futuristischen Kongreßzentrum, in den kalten Monaten hofft er auf einen Schlafplatz in S- Bahn-Zügen und darauf, daß ihn die Zugbegleiter mit ihren Hunden nicht herausschmeißen. Der letzte Anker ist das stinkende Klo am „Stutti“, in den letzten Wochen wurde es fast zur festen Adresse.

Dieter R. ist ein Charlottenburger Obdachloser, einer der rund 600 in diesem Bezirk amtlich Registrierten, einer von knapp 8.000 Obdachlosen, die in Berlin Sozialhilfe bekommen. Damit gehört Dieter R. schon beinahe zur High-Society der Wohnungslosen, denn die Wohlfahrtsverbände schätzen, daß die Dunkelziffer enorm hoch ist, mindestens 20.000 Menschen, die sich auf den Straßen Ost- und West-Berlins durchschlagen. Und das ohne Sozialhilfe, weil sie nicht wissen, wie und wo die Ansprüche geltend zu machen sind. Dieter R. bekommt 112 Mark die Woche. Das Geld geht für die Minipizza, den Tabak und den Schnaps drauf. So muß wenigstens das Schlafen umsonst sein. Aber es gibt in Berlin viel weniger Schlafplätze als Obdachlose. Offiziell genau 5.053. Fast 2.000 in den offiziellen Obdachlosenheimen der Bezirke, fast 3.000 in den gewerblichen Unterkünften, auch „Läusepensionen“ genannt. Aber um die Plätze muß man kämpfen und die Heimvorteile nutzen. Ein Charlottenburger Obdachloser wird nie einen Platz in Köpenick oder Tegel finden, auch wenn man ganz unten lebt, braucht man Beziehungen. „Dort wird einem ja noch das Hemd vom Leib geklaut, da kriegt man ja die Krätze“, sagt er, „das ist ja das Ende der Fahnenstange.“

Eine eigene Wohnung hat Dieter R. nie gehabt. Aufgewachsen ist er in Heimen, in vielen verschiedenen, nur die Autoritäten waren auswechselbar gleich rigide. Die Schule hat er nach sechs Klassen abgebrochen, diverse Lehren scheiterten. Über 50mal war er im Knast, weil Obdachlosigkeit früher verboten war. Mit einer Frau hat er vor Jahren zusammengewohnt, aber die wollte immer „warum, weshalb, wieso“ wissen. Da ist er davongerannt und hat 13 Jahre im Haus Boston, einer Läusepension in der Kaiser-Friedrich- Straße, gewohnt. „Das war schön“, erinnert er sich. Aber als er von einem Krankenhausaufenthalt zurückkam, „ich habe offene Beine“, war der Schlafplatz belegt. Mit dem Sozialarbeiter habe er Alternativen gesucht, aber „das war vergeudete Mühe“. Seit drei, vier Jahren sucht er nicht mehr, „ich habe auch meinen Stolz“, sagt er, und den Schlafplatz in der Herrentoilette hat er gegen andere verteidigt. Die Männer, die ihn dort angezündet haben, sind „Idioten“, sagt er, aber — Glück im Unglück — „sie haben es wenigstens im Winter getan“.