: Wer baut den Rißßß...
■ Lenns Luisenstädtischer Kanal — ein verschütteter Ort
Berlin. Es ist (k)eine alte Geschichte: Vom Landwehrkanal zog sich durch Kreuzberg eine 45 Meter breite Schneise, in deren Mitte ein Kanal verlief. Seitlich gefaßt war die spiegelnde Szenerie zweier Straßen mit vier- bis fünfstöckiger Bebauung entlang des Wassers. Die Kanalrinne war verklinkert, und ihre stadträumliche Inszenierung wurde zusätzlich gesteigert, indem die axiale Kulisse am jeweiligen Ende durch zwei große Wasserbecken festgelegt wurde. Am Landwehrkanal lag das Wassertorbecken und nördlich, vor der Michaelkirche, das Engelbecken. Hier knickte der Kanal mit einem Viertelkreis nach Osten ab und mündete oberhalb der Thomas- Kirche in die Spree.
Jene Kurve von Peter Joseph Lenns »Luisenstädtischem Kanal«, den der preußische Stadt- und Landschaftsplaner 1848 bis 1852 als Teil der gesamtstädtischen »Schmuck- und Grenzzüge« in der neugeplanten Luisenstadt anlegte, ist heute wieder als Spur erkennbar, weil der einstige Mauerverlauf sie nachzeichnet. Die Brache gleicht einem verschütteten Ort. Hüben liegen, versteckt hinter Pappeln und Resten zweier Protestpodeste, von denen aus westdeutsche Touristen über die Mauer sehen konnten, gesichtslose Mietskasernen, das Bethanien und die eingerüstete Thomas-Kirche. Drüben stehen die Rudimente historischer Bauten neben Plattenghettos gleichfalls nackt da. Ein paar Autowracks und Nichtseßhafte in Planwagen beleben die flirrende Naturszenerie als klagloses Resumee auf die Geschichte eines Ortes, dem selbst die Zuschüttung des Kanals durch Erwin Barth, Gartendirektor im Berlin der 20er Jahre, nichts Endgültiges anhaben konnte.
Eine Verbindung der Bezirke Mitte und Kreuzberg an dieser Stelle wäre notwendig — statt eine Verkehrsschneise bis über die Spree. Sie käme zwar dem Begehren der kanadischen Horsham Corporation entgegen, die an der Köpenicker Straße mächtige Dienstleistungszentren plant, bräche dem Stadtgrundriß jedoch ein Rückgrat. Denn im Unterschied zum untergegangenen Potsdamer Platz, für dessen Neubebauung mythische Bilder beschworen werden müssen, ist hier der Kanalverlauf optisch bewahrt. Erhalten geblieben sind sowohl die Figur des Engelbeckens als auch die Sichtbeziehungen, Baufluchten und Gehwegprofile.
Auch wenn sich eine zukünftige Bebauung an der historischen Stadtfigur orientierte, käme das Aufbuddeln des Kanals oder die Anlage heimeliger Parkflächen jedoch einer Fälschung gleich. Entwertet würde damit das Original. Hier, wo die historische Spur noch sichtbar ist, wäre ihre neue Erlebbarkeit erst durch größtmögliche Distanz zum Original möglich. Wer baut so einen Rißßßßß... Rolf R. Lautenschläger
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen