Erst in 22 Meter Tiefe herrscht Ruhe

■ Der Innsbrucker Platz: Denkmal einer dem Auto alles opfernden Stadt/ Seit hundert Jahren wurde immer wieder gesprengt, gebuddelt und montiert/ Bald könnte hier ein »Gebirge« entstehen

Berlin. Die Ampel springt auf Rot. Ein energischer Ruck an der Leine rettet einen Dackel vor dem jähen Verkehrstod. »Der Innsbrucker?« fragt die rüstige Hundebsitzerin durch das Getöse aufheulender Motoren, »an det Ding is ja wohl nischt dran, wenn ick det mal häßlich sage — außer 'ner Menge Autos und 'ner schrecklichen Bebauung.«

Der Himmel über dem »Innsbrucker« ist aus Stahl und Beton. In mächtigem Schwung überschattet eine Eisenbahnbrücke den Asphalt. Wie eine Krake liegt der Platz im brausenden Verkehr. Ihre sechs Tentakel, die Haupt-, Wex- und Eisackstraße, saugen Autos und Busse aus der ganzen Stadt an. Hier rollen täglich 75.000 Benzinkisten von oder zu der Autobahn zwischen Tempelhof und Charlottenburg oder pendeln zwischen Steglitz und der City. Zwölf Ampeln mit viel zu kurzen Grünphasen halten Fußgänger, Radfahrer und Dackel nur mühsam in Schach.

»Es ist schon eine Katastrophe, ab 16 Uhr geht hier meistens gar nichts mehr«, sagt Manfred Kiese, Inhaber eines seit 1945 ortsansässigen Bettengeschäftes, »dabei haben auf dem Platz früher die ersten Krokusse in Berlin geblüht.« Der Laden, an dessen Einrichtung sich seit seiner Eröffnung kaum etwas verändert hat, ist die letzte Oase am Platze.

Die Bemühungen, die Verkehrsdichte mit ein paar kosmetischen Tricks aufzulockern, wirken grotesk. An der Ostseite des Platzes trotzt Alibi-Grünzeug den Auspuffgasen, auf der Westseite plätschert Wasser in ein muschelförmiges Marmorbecken. Auch die üblichen Beton-Blumenkübel und die auf Nostalgie getrimmten Laternen laden nur wenige Passanten zum Verweilen ein. Die Bänke am Innsbrucker bleiben meist leer.

Ein Stockwerk tiefer hasten Fußgänger durch eine unterirdische Passage den Zu- und Abgängen der U- Bahn-Linie 4 Richtung Nollendorfplatz entgegen. Dem Fegefeuer noch ein bißchen näher, durchschneidet ein 260 Meter langer Autobahntunnel das Erdreich. Wochentags treten da unten 130.000 Stadtraser auf das Gaspedal. In 22 Meter Tiefe schließlich herrscht Ruhe. Hier wölbt sich eine ungenutzte U-Bahn-Gruft für die seit Jahrzehnten geplante Linie Potsdamer Platz — Steglitz.

Der Innsbrucker ist ein Abfallprodukt des großstädtischen Verkehrs. Lange war er nichts weiter als eine namenlose Stelle an der Hauptstraße, einem Jahrhunderte alten Handelsweg, der von Königsberg über Berlin nach Aachen führte. Gestunken hat es in seiner Umgebung schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Links und rechts der Hauptstraße lag die Dorfaue, ein von Bauern besiedelter Landstrich. Dieses Gebiet soll, wie Zeitgenossen sich beklagten, »wegen des sehr reichlich vorhandenen Gänse- und Entenschmutzes« kaum zu passieren gewesen sein. Dennoch konnte die schon damals verlästerte Hauptstraße den Ruhm einheimsen, die erste Straße in Preußen gewesen zu sein, die gepflastert wurde. Das war im Jahre 1791 und geschah auch nur, weil sie vom Potsdamer Tor über die Dorfaue nach Potsdam führte, dem Lieblingssitz der Hohenzollern. Bis weit in das vorige Jahrhundert hinein blieben tierische Absonderungen für die Schöneberger Luft bestimmend. Erst seit der Gründerzeit gesellten sich die Düfte des Industriezeitalters hinzu — als man nämlich mit dem Bau des S-Bahn- Stadtringes begann. An der Stelle des heuten Innsbrucker Platzes entstand ein Dammbauwerk mit einer kleinen Brücke. Sie zwang Pferdekutscher und Reiter wie durch ein Nadelöhr. Endgültig besiegelt war sein Schicksal, als im Jahre 1903 mit dem Bau des U-Bahnhofes begonnen wurde. Prominentestes Opfer des siebenjährigen Baulärms war August Bebel, Führer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Er wohnte von 1903 bis zu seinem Tode in der Hauptstraße 97.

Ein schon Mitte der 20er Jahre haarsträubendes Autogewimmel und das Zusammentreffen von rund einem Dutzend elektrischer Straßenbahnlinien zwangen die Stadtväter 1927 zur Einführung eines Kreisverkehrs am Innsbrucker Platz, der nun auch offiziell diesen Namen trug. Ein Jahr später errichteten die Architekten Mebes und Emmerich hier ein sechsstöckiges Turmhaus, das als Musterbeispiel sozialreformerischen Wohnungsbaus galt. Der Wiederaufbau des im Krieg stark zerstörten Hauses verhalf dem Innsbrucker zu Beginn der 50er Jahre zu stadtweiter Popularität. Das hellgestrichene Gebäude hob sich gegen die vielen Ruinen zukunftsweisend ab. Bürgermeister Ernst Reuter erklärte es zum »Symbol des Neubeginns im Berliner Wohnungsbau«.

Der Ruhm währte kurz. An keinem anderen Platz der Stadt ist in den letzten 40 Jahren soviel gesprengt, gebuddelt, betoniert und montiert worden wie am Innsbrucker. Zwar pries der 'Kurier‘ die 1963 begonnene Autobahnuntertunnelung stolz als ein »Vorbild für weltstädtische Planung«, die Euphorie wich aber schon bald der Ernüchterung über die Folgen des Unternehmens: kilometerlange Slalomfahrten auf ständig geänderten Umleitungen, jahrelanger Alpdruck durch Preßlufthammer-Gedröhn, verirrte Anwohner in den Bauwüsteneien. Erst im Oktober 1979 waren die »Gestaltungsarbeiten« im Platzbereich beendet. Stellvertretend für die Berliner Presse urteilte Springers Massenblatt: »Der Innsbrucker Platz wurde 'ne Pleite.«

Kaum ist der Beton des Mitte der 80er Jahre errichteten Wohn- und Geschäftshauses zwischen Haupt- und Ebersstraße getrocknet, drohen dem Unplatz schon wieder Baukräne. Der Berliner Architekt Eckhardt träumt von einem »Gebirge in der Stadt«. Künstlich angelegte Wasserfälle, Felsbrocken und drei- bis 15geschossige Gebäude aus Granit und Glas sollen übertünchen, was der Innsbrucker heute ist: Produkt und Denkmal einer dem Auto alles opfernden Metropole. Mathias Gröckel