Der Magier vom Manzanares

Bernd Schuster verwandelte Atletico Madrid vom Mitläufer zum Meisterschaftsfavoriten  ■ Aus Barcelona Matti Lieske

Kein anderer Spieler, abgesehen von Johan Cruyff, ist im imposanten Nou-Camp-Stadion von Barcelona in den letzten zwanzig Jahren so frenetisch gefeiert worden wie Bernd Schuster. Acht Jahre lang — von 1980 bis 1988 — brandete sein Name in schöner Regelmäßigkeit von den Rängen auf das Spielfeld hernieder, selbst in jener Saison 1986/87, als er nicht auf dem Platz stand, sondern vor den Schranken des Arbeitsgerichts einen Rechtsstreit mit seinem Präsidenten Josep Lluis Nunez ausfocht. Während sich die Mannschaft mit Gary Lineker und Mark Hughes fortwährend bis auf die Knochen blamierte, beharrten die Fans erst recht auf ihren althergebrachten Sprechchören, die der katalanischen Zunge allerdings nicht geringe Probleme bereiteten. „Chuste, Chuste“ klang es holprig durchs Stadion.

Diese linguistischen Schwierigkeiten sind mittlerweile behoben. Wenn Bernd Schuster heute im Trikot von Atletico Madrid das Nou Camp betritt, genügt es, den Mund zu spitzen und herzhafte Pfiffe erschallen zu lassen. Bei jeder Ballberührung des blonden Ex-Augsburgers, der mit etwas gutem Willen schon dreimal Weltmeister sein könnte, erhebt sich ein gellendes Pfeifkonzert, eine Sprache, die weltweit verstanden und beherrscht wird — praktiziertes Esperanto des Fußballs sozusagen. Dabei nehmen die „Cules“ (Ärsche), wie die FC-Barcelona-Fans genannt werden, weil man im alten Stadion „Les Corts“ von der Straße aus nur ihre Hinterteile erblicken konnte, ihm nicht einmal übel, daß er ihren geliebten Club verlassen hat. Dafür konzedieren sie ihm gute Gründe. Auch, daß er bei Atletico spielt, ist kein allzu großes Verbrechen. Wer ist schon Atletico?

Was sie ihm aber nie verzeihen werden, ist, daß er von Barcelona ausgerechnet zum Erzfeind aller Katalanen, zu Real Madrid, wechselte. Selbst der allmächtige Johan Cruyff mußte kürzlich klein beigeben, als er liebend gern den Mexikaner Hugo Sanchez von Real verpflichten wollte. Der geballte Zorn der Cules, die den verhaßten Sanchez, die Inkarnation des Madrilenentums im spanischen Fußball, um keinen Preis im heiligen Barca-Trikot sehen wollten, veranlaßte Präsident Nunez, der Cruyff sonst nahezu jeden Wunsch von den Augen abliest, sein Veto einzulegen.

Dem störrischen Don Bernardo kam diese Konstellation natürlich gerade recht, um den Funktionären des FC Barcelona zum Abschied noch einen kräftigen Tritt zu versetzen, und auch Real-Präsident Ramon Mendoza konnte sich diese Gelegenheit, seinem Intimfeind Nunez eins auszuwischen, nicht entgehen lassen. Zwei Jahre lang spielte Schuster, anfangs mit erheblichen Anpassungsproblemen, bei Real; gerade, als sich das Team auf ihn eingestellt hatte, prächtig funktionierte und Meister wurde, fiel er jedoch der chaotischen Einkaufspolitik Mendozas zum Opfer.

Der Real-Boß kauft neue Spieler in der Regel aufgrund einiger Aktionen, die er von ihnen im Fernsehen gesehen hatte, und plötzlich wollte er unbedingt den Rumänen Gheorghe Hagi, einen brillanten Solisten, der, weil viel weniger konstruktiv, noch schlechter zu dem rasanten Direktspiel, das Butragueno, Michel und Sanchez bevorzugen, paßte als Schuster. Folgerichtig stürzte Real in eine tiefe Krise, während sich Schuster, trotzig wie immer, erst gegen einen Transfer sträubte, dann aber doch bei Atletico Madrid anheuerte.

Binnen kurzem etablierte er sich hier als absoluter Herrscher im Mittelfeld, und es heißt sogar, er sei wieder so gut wie in seiner besten Zeit, als er, der einengenden Partnerschaft mit Diego Maradona enthoben, Barcelona 1985 zum Titel führte. Das ist etwas übertrieben, es fehlt ihm eindeutig die Dynamik jener Tage, die ihn zusätzlich zu seinem magischen Paßspiel befähigte, durch eigene Soloaktionen die gegnerische Abwehr auszuhebeln. Deutlich behäbig geworden, läßt er jetzt am liebsten die anderen laufen, die Meisterschaft scheint aber dennoch durchaus in Reichweite.

Atletico spielt einen soliden, zweckmäßigen Fußball ohne Hast und Aufregung, geprägt von Schuster, der das Spiel zusammenhält und mit seinen präzisen Pässen belebt, und dem schnellen Wirbelwind Paolo Futre, der ganz allein in der Lage ist, jede Abwehr in einen panischen Hühnerhaufen zu verwandeln. Wäre der Portugiese auch noch mit der Fähigkeit gesegnet, seine spektakulären Aktionen einigermaßen vernünftig abzuschließen, Atletico wäre fast unschlagbar.

Doch Futres Sturmläufe enden meist mit miserablen Flanken oder müden Torschüssen — der einzige Gegner, den er offensichtlich nicht umspielen kann, ist der Torwart. So war es auch am letzen Wochenende im mit 0:1 verlorenen Spitzenspiel beim FC Barcelona, der der bis dahin punktverlustlosen Schuster-Truppe unbarmherzig ihre Grenzen aufzeigte und nach acht Spieltagen trotz seines erheblichen Rückstandes von sechs Punkten auf Real und fünf Punkten auf Atletico wieder als der gefährlichste Konkurrent der Hauptstadt-Teams gehandelt wird.

Real steht zwar an der Spitze, aber Mendoza hat erneut zu viel ferngesehen und sich nach Hagi ein zweites Kuckucksei ins Nest gelegt: Robert Prosinecki, ein genialer Spieler zwar, der aber ins Real-Team paßt wie King Kong auf das Empire State Building. Ob mit oder ohne den vielverletzten Prosinecki, Real spielt derzeit miserabel, während Barcelona, nach einigen taktischen Korrekturen in den Spielen bei Real (1:1) und gegen Atletico (1:0) phasenweise blendend kombinierte und die deutlich bessere Mannschaft war. Einziges Manko: der verschwenderische Umgang mit Torchancen, „die selbst ich reinmachen würde“ (Präsident Nunez).

Die wundersame Wiedergeburt des FC Barcelona hat auch Bernd Schuster erschreckt, der sich über seinen alten Club noch vor zehn Tagen in höchstem Maße belustigt hatte: „Als wir ihre Aufstellung sahen, haben wir uns kaputtgelacht.“ Doch Meister oder nicht, um seine Zukunft braucht sich Deutschlands bester Fußballer nach Beckenbauer erstmal keine Sorgen zu machen. Bei den Verhandlungen über die Vertragsverlängerung bis Juni 1993 zog Managerin und Ehefrau Gaby Schuster den zwielichtig-gerissenen Atletico-Chef Gil y Gil, nebenberuflich katastrophaler Bürgermeister von Marbella, mächtig über den Tisch. Rund drei Millionen Mark kassiert der blonde Mann mit den sensiblen Füßen für den neuen Kontrakt, dafür dürfen sich die Zuschauer im Stadion Vicente Calderon am Manzanares- Fluß ein weiteres Jahr die Zungen verrenken: „Chuste, Chuste!“