DEBATTE
: Solidarische Gewerkschaften

■ Versuch eines praktischen Projektes alternativer Gewerkschaftspolitik

Einer der Argumentationsstränge, mit denen die Ost- Krise zum Dosenöffner fürs gewerkschaftliche „Eingemachte“ im Westen gemacht werden soll, zeigt sich in den öffentlichen Aufforderungen — auch aus den Arbeitgeberverbänden — an die Gewerkschaften, tarifliche Einkommensbestandteile zur Finanzierung des Krisenmanagements im Osten verfügbar zu machen. Diese Vorstöße beruhen auf der fatalen Sichtweise, daß die Lohnabhängigen im Westen unterschiedlos die „reichen Verwandten“ der Ost-KollegInnen seien, denen noch zusätzlich zu den Steuer- und Abgabenerhöhungen per Tarifvertrag in die Tasche gegriffen werden könnte. Daß nach diesen Konzepten diejenigen, die auf diese Weise zahlen sollen, keine Kontrolle über die Verwendung der Gelder haben sollen, versteht sich.

Aus dem Bereich der kritischen gewerkschaftlichen Linken artikulieren sich gegen solche Vorstöße bislang am ehesten Stimmen, die eine Aufkündigung des Konsenses mit der Bundesregierung fordern, da die Regierung als „Einheitsverursacherin“ per Umverteilung aus dem Bundeshaushalt und die Konzerne und Unternehmer als „Anschlußgewinnler“ aus den Profiten die Zeche zahlen sollen. Steuererhöhungen und „Solidaropfer“ der Lohnabhängigen-West werden abgelehnt, allerdings weniger im Sinne eines alternativen Konzepts der Krisenbewältigung, sondern eher im Sinne einer „Ohne uns“-Haltung.

So radikal und „klassenkämpferisch“ solche Antworten auch auftreten, so inkonsequent und abstrakt- hilflos bleiben sie doch. Die Forderung nach Reichtumsumverteilung von West-Oben nach Ost- (und West-)Unten bleibt blutleer, solange ein realistischer Ansatzpunkt dafür außer Sicht bleibt.

Gewerkschaften kämpfen in Tarifauseinandersetzungen immer um den Zugriff auf Teile der akkumulierten Gewinne, um sie zur Sicherung und Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten umzuverteilen. Daß diese Umverteilung qualitativen Zielen im Sinne kollektiver „Klassensolidarität“ dienen kann, ist spätestens seit dem Kampf um Arbeitszeitverkürzung kein Novum. Warum also nicht per Tarifkampf die eigene Forderung, daß die Arbeitgeber als „Anschlußgewinnler“ zur Kasse zu bitten sind, praktisch umsetzen?

Solidarische Tarifforderung

Hier und jetzt diskussionswürdig und diskutierbar innerhalb der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft scheint mir unter diesen Voraussetzungen der Vorschlag, gewerkschaftliche Kampfkraft bei Einkommenstarifrunden für folgendes Konzept zu mobilisieren:

1.Ausgleich des Anstiegs der notwendigen Lebenshaltungskosten;

2.Schritte zur überproportionalen Anhebung der unteren Einkommensgruppen (Teilzeitbeschäftigte, Frauenlohngruppen, Ungelernte);

3.Mobilisierung aller übrigen materiellen „Umverteilungsspielräume“ — mit fixierter Forderung — zugunsten eines gewerkschaftlichen „Ökosozialen Fonds“, aus dem unter öffentlicher Rechnungslegung und gewerkschaftlicher Kontrolle sozialökologisch sinnvolle Alternativprojekte gefördert werden, gleichsam als Alternativprojekt zum „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost“.

„Forderungstechnisch“ könnte das so aussehen:

—Lohntarifliche Festgeldforderung in Höhe von X DM pro Stunde/ Monat für alle (denkbar wäre auch eine Kombination einer die Teuerung effektiv auffangenden Prozentforderung mit einem monatlichen Mindestsockelbetrag) plus

—X Prozent der Lohn- und Gehaltssumme für einen „sozialökologischen Aufbaufonds“.

Beides sind eigenständige Kampfziele, ähnlich den Tarifrunden in der Metall- und Druckindustrie in den achtziger Jahren, wo es zugleich um Arbeitszeit und Einkommen ging.

„Sozialökologischer Aufbaufonds“

Das größere konzeptionelle Problem scheint bei der Gestaltung des „sozialökologischen Aufbaufonds“ zu liegen. Die Grünen Öko-Fonds könnten hier vielleicht als Klein-Modelle dienen. Grundsätzlich denkbar und sinnvoll wäre eine von den Gewerkschaften initiierte unabhängige Stiftung, in deren Entscheidungsgremien auch außergewerkschaftliche VertreterInnen ökologischer und sozialer Verbände (zum Beispiel BUND, VCD, Arbeitslosenverband, BAG, Sozialhilfeinitiativen...) einbezogen sind, die mit den tariflich erkämpften Mitteln exemplarische Projekte im Sinne eines sozialökologischen Umbaus fördern. Gerade die leidvollen Erfahrungen mit der Gemeinwirtschaft sprechen entschieden dafür, bei den Strukturen des Fonds von vornherein Öffentlichkeit und Transparenz zu gewährleisten und die Unabhängigkeit von den gewerkschaftlichen Apparaten durch die Einbeziehung solidarischer außergewerkschaftlicher Kräfte glaubwürdig zu sichern, die zudem für die Vergabeentscheidungen zusätzliche und wichtige Kompetenzen einbringen können. Zudem sollte sich der Fonds beschränken auf die Projektförderung, nicht aber selbst als Unternehmen oder „Alternativ-Holding“ operieren.

Das im Verhältnis zu bisherigen alternativen Projektförderungsfonds ungleich größere Finanzvolumen, über das ein solcher Aufbaufonds verfügt, könnte die Realisierung von Projekten in Größenordnungen erlauben, die weitaus mehr als bisher den Charakter praktischer Beispiele für einen sozialökologischen gesellschaftlichen Entwicklungspfad annehmen. Der exemplarische Charakter der Förderung sollte hervorgehoben werden, um (interessierten) Mißverständnissen vorzubeugen, daß eine staatliche Förderung für bestimmte gesellschaftliche Aufgabenbereiche damit verzichtbar werden könnte. Statt dessen muß die Zielrichtung darin bestehen, die Sinnhaftigkeit und Machbarkeit von Einstiegen in einen alternativen Entwicklungspfad gerade im Hinblick auf die Übernahme in öffentliche Förderung aus Bundes- und Ländermitteln unter Beweis zu stellen.

Zu diskutieren wäre auch, in welchem Umfang der Fonds auch sozialökologische Umbauprojekte in Westdeutschland fördern könnte. Dafür spricht, daß eine strukturelle Einbeziehung des Westens jener Optik entgegenwirken könnte, derzufolge der Begriff einer sozialen Krise künftig ausschließlich mit den FNL identifiziert und die realen Krisen und der Umbaubedarf im Westen aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt werden sollen.

Für die gewerkschaftliche Mitgliedschaft wird eine oben beschriebene Forderungsstruktur nur dann akzeptabel sein, wenn sie davon ausgehen kann, daß der politische Wille zur Durchsetzung beider Ziele in der Organisation vorhanden ist. Das Ziel der Einkommenssicherung — vor allem für die unteren Einkommensgruppen — kann selbst nicht verhandelbar sein; das materielle Endergebnis muß dieser Mindesterwartung entsprechen. Der durch die Kräfteverhältnisse gestaltbare Spielraum muß beim zweiten Teil des Pakets (sozialökologischer Fonds) liegen, weil auf diesem Terrain gesellschaftliche Solidarität zugunsten der gewerkschaftlichen Forderung mobilisierbar sein wird.

Wo sind die Träger solcher Initiativen?

Die sozialen TrägerInnen eines solchen Versuchs, „solidarische Gewerkschaftspolitik“ auf die neuen Bedingungen zu übersetzen, sind in Gestalt der „kritischen gewerkschaftlichen Intelligenz“ durchaus vorhanden. Das Potential von ReferentInnen und MitarbeiterInnen von Vorstandsverwaltungen, auf den mittleren Ebenen der hauptamtlichen Apparate, im WSI, in der gewerkschaftsnahen Forschung, Wissenschaft und Publizistik, das sich bei Gedanken an den real existierenden Kurs der Gewerkschaften graust, ist mittlerweile nicht unbeträchtlich — von kritischen BetriebsrätInnen und ehrenamtlichen FunktionärInnen einmal ganz abgesehen.

Eine „Initiative Solidarische Gewerkschaftspolitik gegen soziale Spaltung“ könnte dann breite gewerkschaftliche Glaubwürdigkeit und öffentliche Wahrnehmung erlangen, wenn sie von relevanten und namhaften Teilen dieser „kritischen Intelligenz“ getragen wird. Daniel Kreutz

Der Autor ist arbeits- und sozialpolitischer Sprecher, Die Grünen im Landtag (NRW); siehe auch taz vom 2. und 4.10.