Spitzen-Frau

■ SPD-Fraktion: Nie gehörte weniger Mut zu einem überfälligen Schritt

Spitzen-Frau SPD-Fraktion: Nie gehörte weniger Mut zu einem überfälligen Schritt

Die sozialdemokratische Partei ist nun wahrlich nicht für ihren Wagemut bekannt. Sie neigt zum Verharren in alten Gewohnheiten, ihre Traditionen sind ihr heilig, oft auch die schlechten. Und eine der Traditionen der Sozialdemokratie ist die Kluft zwischen dem verbalen Bekenntnis zur Reform, auch zur Selbstreform einerseits, ihrem realen Immobilismus andererseits. Die Neigung für den eingetretenen Pfad des geringsten Widerstandes in Kombination mit zaghaftem Erneuerungswillen sorgt seit jeher dafür, daß notwendige, überfällige Schritte erst dann gemacht werden, wenn sich fast schon niemand mehr dafür interessiert.

Mit dem überraschenden Rückzug des Fraktionsvorsitzenden Vogel ist eine Situation entstanden, in der die SPD einen solchen Schritt machen könnte: Die Wahl einer Frau in ein politisches Spitzenamt, das mit realer Macht ausgestattet ist, ist überfällig. Und nie gehörte weniger Mut dazu, diesen Schritt nun auch wirklich zu tun. Längst ist die Frau an der Spitze ein unabdingbares Muß für jede gesellschaftliche Großorganisation, die nicht mit eintönig-grauen Schlips-und-Anzug-Garden ihren Modernitätsrückstand demonstrieren will. Längst ist im öffentlichen Bewußtsein das Stadium der lammfrommen, von den machthabenden Männern geduldeten Alibi-Frauen überwunden, nur die Parteien hinken in ihrer Organisationspraxis noch hinterher.

Wenn die SPD jetzt nicht eine ihrer profilierten Frauen an die Spitze der Fraktion stellt, hat sie den politischen Verstand verloren. Von dem halben Dutzend Personen, die sich aus der Masse der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion deutlich abheben, sind mindestens die Hälfte Frauen. Eine hat jetzt ihren Anspruch angemeldet. Das Argument der Qualifikation, das von den Männern sonst immer so penetrant zur Verteidigung ihrer Machtansprüche in die Debatte geworfen wird, ist in diesem Fall offensichtlich obsolet. Die SPD hat die Chance, dem staatsmännisch sich gerierenden künftigen CDU-Fraktionsführer Schäuble eine Wahl mit eigenem Akzent entgegenzusetzen: bei gleicher Qualifikation entscheidet das Geschlecht — diesmal für die Frau. Martin Kempe