Die Tage der tanzenden Toten

Während bei uns zu Allerheiligen und Allerseelen die Menschen mit hängenden Köpfen über die Friedhöfe latschen, feiern die Mexikaner das Fest der Verblichenen auf ihre Art: Totenköpfe aus Zucker schmücken die Häuser, überall hängen Skelette aus Seidenpapier herum, und die Einheimischen „tanzen und schlafen mit dem Tod“.

In Mexiko ist der Tod in diesen Tagen überall gegenwärtig. Totenköpfe aus Zucker grinsen aus den Schaufenstern, über die Straßen gespannt hängen Skelette aus Seidenpapier, und die Bäcker verkaufen Brot in Knochenform. Die Mexikaner bereiten sich auf den „dia de los muertos“ (Tag der Toten) vor. Nach altem Brauch sind die Seelen der Verstorbenen an diesem Tag Gäste in ihrer ehemaligen Wohnstätte. Europäern und Nordamerikanern bleibt diese Art, Allerheiligen und Allerseelen zu begehen, oft unverständlich. Die Erben der Azteken und Mayas feiern den Tod. Die Konditoren fabrizieren Totenköpfe aus Zucker oder Schokolade in allen Größen und Farben. Wer in dieser Zeit einen solchen Zuckerschädel mit seinem Namen auf der Stirn geschenkt bekommt, deutet dies nicht als Drohung, sondern als Zeichen der Verbundenheit mit dem Schenkenden.

Auf den Märkten gibt es Bögen aus Seidenpapier, auf denen der Tod als Krankenwagenfahrer, Musiker oder Briefträger dargestellt ist. Ähnlich dem Weihnachtsschmuck in Mitteleuropa schmücken die Seidenpapierblätter in langen Girlanden ganze Straßenzüge, Kindergärten und Stuben. Im Schaufenster einer Boutique schauen grinsende Schädel aus der angebotenen Herrenkleidung. Beim Optiker trägt der Tod eine italienische Importbrille.

Nach altem mexikanischem Glauben kehren die Seelen der Toten zwischen dem 30. Oktober und dem 3.November aus dem Jenseits zurück; zuerst die der Ungeborenen, die im Mutterleib starben, oder der ungetauften Kinder, ab dem 31. Oktober dann die Seelen von Kindern und Jugendlichen, einen Tag später die von Erwachsenen. Zum Schluß, ab dem 2. November mittags, erreichen dann diejenigen die Erde, die keine Familie hatten. Diese können bis zu einer Woche im Diesseits bleiben, weshalb viele ihnen einen Teller mehr auf den Tisch stellen.

Treffpunkt ist in der Nacht zum 2.November der Friedhof, wohin die Familien am Abend mit ihren Kerzen ziehen und die Gottesäcker in ein Lichtermeer verwandeln. Es riecht nach Copal, einem Baumharz, dem Weihrauch ähnlich. Auf die frisch hergerichteten Gräber stellen die Verwandten Körbe voller Lebensmittel, meist das Lieblingsessen des Verschiedenen.

Vom Friedhof führen Pfade aus Blüten zu den Häusern. Den Seelen wird so der Weg zu ihrem Haus gewiesen. In tagelanger Arbeit haben alle Familienmitglieder eine Art Altar, die „Ofrenda“, errichtet und mit Fotos, Totenköpfen aus Zucker und vielerlei Speisen versehen. Rundherum ist die Stätte mit gelben Totenblumen geschmückt, die auf aztekisch Cempoalxochitl heißen und an deren Duft sich die Toten laben sollen. Am 2. November erwarten die Lebenden den Besuch der Toten zum Mittagessen. Dann gibt es das mexikanische Nationalgericht Mole, eine dunkle Soße, die in zwei Tagen mühevoller Arbeit zubereitet und mit Hühnerfleisch serviert wird. Das Rezept ist je nach Region unterschiedlich, mindestens werden jedoch 20 Zutaten verwendet, darunter mehrere Chili-Sorten, Zimt, Oregano, Mandeln, Nüsse, Pfeffer, Schokolade, Bananen und Sesam.

Der mexikanische Friedensnobelpreisträger Octavio Paz schreibt in seinem Buch: Das Labyrinth der Einsamkeit, über die Allerseelenbräuche seines Landes, diese bezeugten die Nichtigkeit des menschlichen Daseins: „Wir schmücken unsere Häuser mit Totenschädeln, wir essen am Totensonntag Brot in Form von Knochen, wir amüsieren uns mit Liedern und Schwänken, aus denen der kahle Tod grinst.“

Den Unterschied zur Haltung eines Europäers oder Nordamerikaners beschreibt Octavio Paz so: Für einen Pariser, New Yorker oder Londoner sei der Tod ein Wort, das er vermeide, weil es die Lippen verbrenne. „Der Mexikaner dagegen sucht, streichelt, foppt und feiert ihn, schläft mit ihm“, sagt Paz. Natürlich habe auch der Mexikaner wie alle anderen Angst vor dem Tod, doch verstecke und verheimliche er ihn nicht, sondern sehe ihm mit Verachtung und Ironie frei ins Gesicht. Die Geringschätzung des Todes nähre der Mexikaner aus seiner Geringschätzung des Lebens, schreibt Paz weiter. „Unsere Lieder, Sprichwörter und Fiestas bezeugen unmißverständlich, wie wenig uns der Tod zu schrecken vermag, denn das Leben hat uns gegen Schrecken gefeit.“ Der Kult des Todes sei, wenn er tiefgründig und vollkommen sei, auch ein Kult des Lebens, schreibt Octavio Paz: „Eine Kultur, die den Tod verleugnet, verleugnet das Leben.“ Peter Stegemann/ap