Zeit, Spiegel und Wimpern

Das Zan Pollo Theater in Berlin entdeckt Vladimir Kazakov  ■ Von Lilli Thurn und Taxis

Ein Raum mit vielen Fenster, blinden Fenstern. Das riesige, das an der Stirnseite des Raums bis zum Boden reicht, ist eigentlich eine Flügeltür. Manchmal öffnet sie sich ins Nichts. Manchmal öffnen sich auch die anderen Fenster, schlagen in wildem Rhythmus auf und zu, ohne Sinn. Einziges Möbel ist ein Spiegel, in dem sich jeder so sehen kann, wie er sich sehen will. „Man sagt, der Wahnsinn könne durch den Spiegel übertragen werden.“ — Die Bühne steht für einen Raum, der zerfließt und farblos ist, ein Raum für absurde Begebenheiten. „Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte... das heißt, nicht gesagt, sondern gedacht... aber ich bin auf den Gedanken ausgeglitten.“ — „Was sie eben sagten, ist mir ebenso unverständlich wie das, was ich gleich sagen will. Aber wie kann man über solche Dinge verständlich sprechen?“

Der russische Dichter Vladimir Kazakov (1938-1988) beherrscht das kommunikative Chaos, entleert jede Konversation ihres nichtigen Inhalts. Texte und Episoden Kazakovs hat Peter Schöttle, Regisseur und Bühnenbildner zugleich, für das Zan Pollo Theater, noch immer eine von Berlins ersten Off-Bühnen, zu einem Bühnenstück gefügt: Der Trauerfisch oder Das nicht heilende Paradies. Es treten immer neue Akteure auf, die aber irgendwie doch die gleichen sind. So unterscheidet sich die umworbene Evelyn in nichts von der koketten, selbstverliebten Zirkusreiterin. Beide stehen sie zwischen zwei Männern, dem Schwarzen und dem Weißen; der eine ein Grübler und Unglücksrabe, den „mittägliches Entsetzen“ befällt, der andere ein Luftikus und Charmeur, „gebürtig aus Smolensk und einer Menge anderer Unstimmigkeiten“.

Überhaupt gibt es nur Schwarze und Weiße, Kommödianten mit weißen Gesichtern in schwarzen und weißen Harlekinskostümen. Sie sind Tänzer, Akrobaten, Musiker und Schauspieler in einem. Sie treffen in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander; Mann und Frau, Gäste bei Tisch, zwei Männer auf der Wanderung. Und könnten ebensogut alleine sein, so wenig sie mit der eigenen Rolle anfangen können. „Hinter mir steht mein Rücken,/ Und sein Gesicht vom Wind zerschrammt,/ Und winkt mit den Ärmeln/ Wie in einem eisern-abflußrohr-knieverrenkten Drama.“

Da gibt es die Braut, die in den Gedanken des Brautseins derart verliebt ist, daß sie sich gleichermaßen in ihren Schleier wickelt, um nicht zu sehen, was da auf sie zukommt. Da ist der Bräutigam, der ihr so fern bleibt unter den gestrengen Augen der Brauteltern. Er schlägt Kapriolen, um ihr Wohlwollen zu erlangen, windet sich in schmeichlerischer Ekstase. Dabei will er nur sie, die immer weniger erreichbar wird. Erst als er sterbend dahinsinkt, kommt die Begehrte auf ihn zu, ungeachtet der elterlichen Blicke.

Begriffe wie Zeit, Spiegel, Wimper wiederholen sich, werden zu Konstanten in dem facettenreichen Spiel. Begriffe, wie sie auch der Dadaismus kennt. Kazakov als Postdadaist? Er selbst nennt als seine Lehrer Dostojewski und Gogol sowie die Dichter der Petersburger Avantgardegruppe „Oberiu“, Alexander Wedenski und Daniel Charms. Sie bestreiten wie Kazakov die Geltung der Alltagslogik in der Kunst und führen damit „eine Art poetische Kritik der Vernunft, grundsätzlicher als die abstrakte von Kant“ (Wedenski) ein. Kazakov gilt als Vollender des russischen Absurden. Dabei ist seine Dichtung niemals verzweifelt wie die vergleichbare im westlichen Europa. Hat für den französischen Existentialismus das sinnentleerte Dasein etwas Furchterregendes, gewinnt dagegen die sonst so schwermütige russische Seele der menschlichen Unfähigkeit, der eigenen Zwanghaftigkeit zu entkommen, eine gewisse Komik ab. Und Kazakov ist komisch, zum Brüllen komisch wie er tragisch ist. Seine Figuren reden aneinander vorbei, als sprächen sie verschiedene Sprachen, ziehen und zerren aneinander, winden sich umeinander und finden doch nie zueinander. Der Raum ist ein Raum mit eigenen Regeln, worin sich die Figuren nach einer eigenen Logik bewegen; die Worte tropfen, fließen und rauschen nach eigenem Gesetz. Man soll nichts verstehen, und wer sich dennoch bemüht, wird scheitern. Es gilt, den Geist für kurze Zeit einer anderen Logik auszusetzen, einzutauchen in die Absurdität, die uns dann im Wiederauftauchen gar nicht mehr so fremd, so verschieden scheint.

Vladimir Kazakov: Der Trauerfisch oder Das nicht heilende Paradies. Zan Pollo Theater, Rheinstraße 45, Berlin 41. Mittwoch bis Sonntag um 20 Uhr.