Hier ist anderswo

■ „Die zwei Leben der Veronika“ von Krzysztof Kieslowski

Eine junge Frau erstarrt. Sie hält inne im Laufen. Soeben hat sie ihr Ebenbild erblickt, in einem Touristenbus, der den Marktplatz von Krakau verläßt. Sie wird von der anderen, ihrer Wiedergängerin, nicht gesehen, da diese gerade photographiert. Die andere wird sie erst am Ende des Films auf ihrem Filmstreifen entdecken. Und dann erschrecken. Und innehalten.

Um diese Schlüsselszene dreht sich die halb verträumte, halb realistische Geschichte von Krzysztof Kieslowskis Film Das doppelte Leben der Veronika. Von ihr aus wird das Leben von Veronika erzählt, einer jungen Sängerin, die plötzlich während eines Konzerts stirbt: die polnische Seite. Auf der französischen Seite steht eine junge Musiklehrerin und ihre geheimnisvolle Beziehung zu einem Puppenspieler: die andere Veronika. Hauptdarsteller in diesem Film ist dennoch nicht die großartige Irene Jacob als doppelte Veronika, sondern die Musik des unbekannten holländischen Komponisten Van Den Budenmayer. Sie ist Trägerin des Mysteriums, in das die beiden Frauen eingewoben sind, sie ist die gemeinsame Leidenschaft, die sie dem Tod nahebringt. Mit Musik hebt der Film an, mit dem Gesang der polnischen Veronika unter strömendem Regen, mit Musik klingt er aus, wenn die französische Veronika ihre Hand an eine Baumrinde legt.

Der Film ist ein geheimnisvolles, rhythmisch weiches und zugleich straffes Gewebe golden ausgeleuchteter Bilder, fast katholischer Ikonen mit Veronikas Gesicht; er ist dennoch unpathetisch, unaufdringlich. Die Differenzen im Lebenshintergrund der beiden Frauen faßt er in Detailbeobachtungen: ein Polizeiaufmarsch in Krakau, der Bahnhof St.Lazare in Paris. Kieslowski hält seinen Film meisterhaft in der Schwebe zwischen Realismus und Parabel, zwischen dem Individuellen und dem Typischen der Person, dem eigentlichen Thema des Films.

„Ich versuche, die Zahnschmerzen zu erzählen. Anders ausgedrückt: Ein tiefgläubiger Mensch hat genauso Zahnschmerzen wie ein Atheist.“ Nicht die Differenz zweier Sozialisationen interessieren den Regisseur, sondern mögliche Korrespondenzen, das gelegentliche Wunder des Alltags.

„Heute hat das Fernsehen den Auftrag, Erklärungen zu geben. Ich hingegen gebe vielmehr Geheimnisse.“ Kieslowskis Film ist ein Appell, die surrealistische Inspiration und damit die mythische Dimension der Dinge und Vorgänge wiederzufinden — ein metaphysischer Krimi, der sich aus vielen Indizien und einer auffälligen Thematisierung der Perspektive durch Lupen, Glaskugeln und Spiegel ergibt. Wie in Ein kurzer Film über die Liebe lebt die Faszination für den anderen von versteckten Blickwechseln und eingeschobenen Linsen: Liebe bahnt sich durch optische Brechungen an. Das Liebesspiel ist ein Rätselraten: ein Schnürsenkel, ein Kinderbuch, ein Wettlauf durch Paris. Der Charme des Films liegt in dieser vorsichtigen Deutung des Imaginären, in der erneut aufgeworfenen Frage, ob nicht jedes Erkennen nur Wiedererkennen sei. „Ici et ailleurs“ ist sein geheimes Motto, vielleicht das des Films überhaupt, Präsenz bei permanenter Verflüchtigung. Michaela Ott

Krzysztof Kieslowski: Die zwei Leben der Veronika , mit Irène Jacob, Jerzy Gudejko, Philippe Volter, Frankreich, Polen 1991, 92 Min.