Dr. Jekyll und Glenn Gould

■ Für DACAPO: Musikologe Michael Stegemann über den genialen Glenn Gould

„Vorsicht Klischee“ muß sich der Musikologe Michael Stegemann bei seiner eingehenden Beschäftigung mit dem 1982 verstorbenen Pianisten immer wieder gesagt haben, denn Glenn Gould bestätigte oberflächlich alle gängigen Vorurteile von den fließenden Grenzen zwischen Genie und Wahnsinn. Deshalb auch der Untertitel seines Vortrags „zur Psychopathologie des Genies“, den er am Mittwoch abend im Kito hielt, deshalb auch das einführende Zitat aus Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Diese Geschichte von den zwei extremen Persöhnlichkeiten in einem Individuum beleuchtet Goulds Charakter sehr genau. Der sein Leben lang unter Berührungsängsten leidende Gould, der seiner Mutter einmal drohte „ wenn du mich anfaßt, schlage ich dich tot“, der nach 1964 nie mehr vor Publikum spielte und die letzten Jahre seines Lebens völlig alleine in einer Hotelsuite verbrachte, schlüpfte in den Medien in die unterschiedlichsten Rollen: Er trat in Verkleidungen als Halbstarker oder als langmähniger Komponist Karlheinz Klopweisser auf. Er führte Interviews mit sich selber, betitelt etwa mit „Glenn Gould spricht mit Glenn Gould über Beethoven“ und er schrieb unter den abenteuerlichsten Pseudonymen imaginäre Rezensionen zu seinen eigenen Schallplatten. Das gleiche Ungenügen mit dem eigenen Ich trieb ihn auch dazu, seine Interpretationen verschiedener Kompositionen im Laufe der Jahre oder auch nur innerhalb von wenigen Wochen radikal zu ändern. Er haderte fast immer daran, die ideale Version — die Wahrheit der Musik — nicht hörbar machen zu können. Der „Klangtransport“ war fast nie optimal, und auf der Suche nach dieser wahren Interpretation verstieg er sich in groteske Versuche. Eine Mozartsonate spielte er zum Beispiel in 16 Jahren dreimal in drei verschiedenen Ländern ein, um dann daraus eine Aufnahme zusammenzuschneiden.

An Klangbespielen verdeutlichte Stegemann, daß Goulds Interesse vor allen Dingen dem Kontrapunkt in der Musik galt, also dem gleichzeitigen Mit- und Gegeneinanderlaufen von mehreren Stimmen in einem Tonsatz. Alle Musiker, die nicht oder wenig kontrapunktisch komponierten, kamen sehr schlecht bei ihm weg: Schubert und Schumann waren Langeweiler, Chopin schuf nur „leeres Notengeklimper“. Gould hatte in seiner Laufbahn die Tendenz, die Stücke immer langsamer zu spielen, eben weil so die kontrapunktischen Linien klarer wurden. Selbst Goulds Sketche, Filme oder Hörspiele kamen immer wieder auf den Kontrapunkt zurück.

Im Grunde ist aber der Kontrapunkt nichts anderes als eine musikalische Entsprechung des „Jekyll-Hyde“ Dilemmas: immer mit dem gerade Gemachten unzufrieden sein und die Sehnsucht, jede Facette des Ich's ausdrücken zu können. Stegemann stellte diesen Erklärungsversuch der faszinierenden Fremdheit von Goulds Musik in einem sehr klaren und interessanten Vortrag dar. Oder mit seinem eigenen schönen Versprecher: Man konnte ihm viel „zugoulde halten“. Willy Taub