Kennen Babies keinen Schmerz?

■ In den USA werfen Eltern Medizinern vor, das Schmerzempfinden von Babies und Kindern zu ignorieren/ Operationen an Frühgeburten ohne Narkose sind üblich/ Eine Studie belegt: Schmerzen bei Säuglingen wirken sich ähnlich wie bei Erwachsenen aus

Jeffrey Lawson starb vor sechs Jahren im Alter von sieben Wochen. „Sein Erlebnis“, schrieb seine Mutter Jill letztes Jahr in der amerikanischen Zeitschrift 'Mothering‘, „hat unsere Einstellung und Ethik zum Schmerzempfinden von Neugeborenen auf immer verändert.“ Jeffrey war drei Monate zu früh zur Welt gekommen. Er wog nur anderthalb Pfund und litt an den bei Frühgeburten typischen Unterentwicklungen des Herzkreislaufsystems. Zwei Wochen nach seiner Geburt verschlimmerte sich Jeffreys Zustand. Sollte er überleben, mußte ein Blutgefäß in der Nähe des Herzens mit einem operativen Eingriff abgebunden werden. Dafür wurde ein Schnitt vom Brustbein des Babys zur Wirbelsäule gemacht, Rippen und eine Lunge beiseite geschoben, das Gefäß abgebunden und die Schnitte anschließend wieder genäht. Jeffrey starb fünf Wochen nach dem Eingriff.

Monate später erfuhr Jill Lawson, daß Jeffrey ohne Narkose operiert worden war. Die Narkoseärztin hatte den Säugling lediglich mit einem muskellähmenden Medikament behandelt, aber nicht, wie vor dem Eingriff vereinbart, Betäubungs- oder Schmerzmittel gegeben. Von Lawson daraufhin zur Rede gestellt, erklärte die Ärztin, Babies empfänden keine Schmerzen. Dies war damals eine weitverbreitete Ansicht unter Medizinern. Auch wenn Babies Schmerzen empfänden, so die Meinung weiter, könnten sie sich später nicht daran erinnern. Deshalb blieben ihre Schmerzen ohne Konsequenzen. Diese Ansicht konnte sich schon deshalb hartnäckig halten, weil die Mediziner die Folge- und Nebenwirkungen von Betäubungsmitteln bei Babies fürchteten.

Schmerzlinderung vermindert Komplikationen

Aufgrund der Öffentlichkeit um Jeffrey Lawson hat sich diese Einstellung in den letzten Jahren gewandelt. Doch auch heute noch werden Babies und Kinder nicht ausreichend gegen Schmerzen behandelt. Operationen an Frühgeburten ohne Narkose sind noch immer weitverbreitet, und eine Umfrage von 1987 ergab, daß ältere Kinder nach schweren operativen Eingriffen oft nicht ausreichend mit schmerzstillenden Mitteln behandelt werden. „Es ist eine Schande, wie wir Kinder behandeln“, erklärt Myron Yaster, Narkosearzt für Kinder am Johns Hopkins Medical Institute in Baltimore.

Yaster macht in erster Linie die mangelhafte medizinische Ausbildung auf dem Gebiet für die Misere verantwortlich: „Die jungen Mediziner lernen nicht, wie diese schmerzlindernden Mittel sicher angewandt werden können.“ Dabei ist heute hinreichend klar, daß selbst die jüngsten Frühgeburten „Schmerz“ auf bestimmte Weise empfinden und an den Folgen leiden. Bei Babies, die ohne Narkose operiert werden, steigt während des Eingriffs die Pulsrate und der Blutdruck liegt höher als bei narkotisierten Babies. Außerdem wird das Immunsystem geschwächt und der Spiegel an „Streßhormonen“ ist erhöht. Yaster: „Dies ist nicht nur eine Sache der Humanität. Die Behandlung von Schmerz wirkt sich entscheidend auf den Erfolg eines Eingriffs aus. Schmerzlinderung vermindert Komplikationen und Todesfälle.“

Dies bewies zum Beispiel der britische Arzt K. J. S. Anand in einer 1987 erschienenen Studie. Anand, heute an der Harvard Medical School, beobachtete den Krankheitsverlauf von Frühgeburten, bei denen ähnliche Eingriffe wie bei Jeffrey Lawson vorgenommen wurden. Die Hälfte der kleinen Patienten erhielten lediglich ein Medikament, das die Muskelaktivität lähmt, während die anderen Babies mit einem starken Betäubungsmittel, das auch für Erwachsene verwandt wird, narkotisiert wurden. Die Babies vertrugen die Anästhesie gut, erholten sich schneller und erlitten weniger Komplikationen als die nicht-narkotisierten Patienten. Das Resultat der Studie war so eindeutig, daß die Mediziner ihre Untersuchungen vorzeitig abbrachen, um die Ergebnisse möglichst schnell zu veröffentlichen. „Ob Neugeborene Schmerzen genauso wie ältere Kinder und Erwachsene empfinden, ist unbekannt“, erklärt Anand, „doch wissen wir, daß Schmerzen sich bei Säuglingen ähnlich wie bei Erwachsenen auswirken.“ In einer weiteren, gegenwärtig in England durchgeführten Studie werden anhand von Tierversuchen die Langzeitwirkungen von Schmerzen untersucht. Womöglich, so die ersten Ergebnisse, bildet das unreife Nervensystem von Neugeborenen während eines schmerzhaften Erlebnisses vermehrt Nervenzellen aus. „Vielleicht“, kommentiert der Schmerzspezialist Lonnie Zeltzer von der Universität Kalifornien, „verdammen wir einen Menschen zu lebenslänglicher erhöhter Schmerzempfindlichkeit, wenn wir ihm als Baby die Schmerzen nicht stillen.“

Studien dieser Art haben in den letzten Jahren das Leiden von Neugeborenen und Kindern um vieles gemindert. Nicht zuletzt waren es die Eltern der kranken und oft verstorbenen Kinder, die die Mediziner zum Umdenken gezwungen haben.

Viele Eltern untersuchten die medizinischen Unterlagen ihrer verstorbenen Kinder erst, als Jeffrey Lawsons Fall bekannt wurde. „Ich bin nicht auf die Idee gekommen, mich nach Anästhesie zu erkunden“, erklärt eine Mutter, „genausowenig wie ich gefragt habe, ob der Chirurg seine Hände vor der Operation waschen wird.“

Eltern zwingen Mediziner zum Umdenken

Jill Lawson hätte vor Gericht gehen können, weil Jeffrey entgegen ihren Forderungen nicht narkotisiert worden war. Doch, schreibt sie, dann hätte „ich nichts als Geld erhalten“. „Doch Geld wollte ich nicht. Ich wollte, daß Ärzte aufhören, Operationen an Babies vorzunehmen, ohne ihre Schmerzen zu stillen.“

In den letzten Jahren hat sich der Verband der US-amerikanischen Kinderärzte ihrer Ansicht angeschlossen. In einer Erklärung des Verbands von 1987 wird die Verwendung von lokaler oder totaler Narkose bei Operationen an Neugeborenen gefordert. Weiter heißt es: „Nach heutigen ethischen Richtlinien können chirurgische Eingriffe an Versuchstieren nicht ohne Anästhesie vorgenommen werden. Wenn wir bereit sind, uns die Zeit zu nehmen, um ein Jungtier vor einer schmerzhaften Operation zu betäuben, sind wir nicht moralisch verpflichtet, das gleiche fü die Neugeborenen unserer menschlichen Spezies zu tun?“

Absichtserklärungen wie diese, so Lawson, zeigen „eine zuversichtlich stimmende Bewußtseinsänderung seit Jeffreys Tod“. Auch Yaster ist der Ansicht: „In zehn bis zwanzig Jahren, wenn wir auf diese Zeit zurückschauen und sehen, was wir mit den Kindern gemacht haben, werden wir zu dem Schluß kommen, daß dies eine unzivilisierte Periode in der Geschichte der Medizin war.“ Silvia Sanides