Das Ghetto Prenzlauer Berg

■ Über den Mythos, nicht beteiligt zu sein

Als X. neulich verzweifelt sein Notizbuch suchte, rief er bei Y. an. Ob Y. wisse, wo es sein könne. Y. gab ihm zwei Tips, denn X. legte das Notizbuch immer noch instinktiv in irgendwelche Verstecke, die er dann vergaß.

Diese Manie stammt aus Stasi-Zeiten. Y. war jener MfS-Offizier, der X. zu bearbeiten hatte. Er besichtigte auch gelegentlich die Wohnung von X. „Konspirative Hausdurchsuchung“ nannte sich das im MfS-Jargon. X. durfte nicht da sein, Y. übte sogar, sich im Dunkeln im Zimmer von X. zurechtzufinden.

Diese Episode kann ausgebaut werden zu einer Geschichte, sie kann verkürzt und gebrochen erzählt werden als kurze Prosa, ich kann den Humor verstärken oder herausnehmen, Deutungen einsetzen oder weglassen — alles ist erlaubt in der Kunst. Ich kann auch behaupten, daß die Stasi ein wahrhafter Ideenspender war, eine unaufhörliche Quelle der Inspiration. Wer wollte es dem verübeln, der nah der Quelle leben wollte, verhieß sie doch machtgeschützte Kreativität. Warum nicht daraus eine Theorie stricken, nur wer dem Geheimdienst diene, sammele entsprechend vielschichtige Wirklichkeitserfahrungen, nur der könne zum Dichter berufen sein. Die Ästhetik des Verrats, Vorbilder ließen sich finden, ein paar berühmte Künstler, die Berichte geliefert haben...

Und es ist ja auch eine eigene Literatur, gerade die der Staatssicherheit, die Poesie der Macht für dreihunderttausend Stimmen, sehr knapp gerechnet. Ein Gesamtkunstwerk für Millionen Seiten. Kurzgeschichten darunter, sperrig erzählt, spröde, aber verdichtet — wie diese:

Vor zirka 14 Tagen fuhr die Frau des IM mit einer Person in Richtung Jena, die der IM im nachhinein als Rathenow identifizierte. Der R. zeigte sich außerordentlich gut informiert über das Parteileben an der Sektion Journalistik der Karl-Marx- Universität Leipzig, u.a. auch über die Parteierziehungsmaßnahmen gegen den IM. R. nannte den IM „einen guten Mann“. Die Genannte klärte den R. nicht darüber auf, daß sie die Ehefrau des IM ist.

Nicht ohne Witz, die Idee eines Spitzels (IM), seine ausgehorchte Quelle (R.) zu nutzen, um sich selbst als „guten Mann“ loben zu lassen. Er war eben damals schon ein Dichter, der IMS „Milan“ (selbstgewählter Deckname), der am 17.12.76 oben zitierten Bericht (mit freilich viel mehr Details) seinem Führungsoffizier Genosse Schiffel übergab oder diktierte. Heute schreibt er Reportagen und kleine Satiren, das neue Deutschland giftet er an. Dafür gibt es plausible Gründe, nur drängt sich beim Lesen ein Gedanke auf: Der gehässige, zynisch beleidigte Ton kommt noch aus einer anderen Quelle als der neuen Realität. Etwas Verdrängtes schimmert durch, ein Haß auf das eigene schlechte Gewissen sucht sich andere Gegenstände, das IM-Gewesensein wirkt fort. Auch, indem „Milan“ sich kürzlich in einer Satire über das Stasi-Thema lustig machte...

Natürlich war allen klar, daß jegliche Szene in der DDR von Informanten durchsetzt war. War es deshalb egal, wer was wo weitersagt? Ein IM erklärte mir mal, er habe seinen besten Freund immer schützen wollen durch seine Berichte. Seine Texte seien politisch wirr und oft gefährlich gewesen, also habe er ihn zum Trottel erklärt. Damit ihn das MfS nicht ernst nehme... Womöglich habe ihn das vor dem Gefähngnis bewahrt...

Möglich. Auch möglich, daß er deshalb nicht in den Westen reisen und seine Texte in der DDR nicht verbreiten durfte. Daß er keine größere Wohnung und kein Telefon bekam, weil man (und das MFS bestand eben größtenteils aus Männern) glaubte, ihn nicht ernst nehmen zu müssen. Ist es egal, ob ich mich in meinem Verhalten als Trottel tarne — oder ob ich mich von anderen (ungefragt) zum Trottel erklären lassen muß? Wenn alle IMs so normal gefunden hätten, was sie tun, hätten sie locker und lässig ihren Bekannten erzählen können, was sie erzählten. Was hindert sie noch heute daran? Ich verweise auf ein Buch, das die Geschichte eines Spitzels erzählt, der seinen Verrat vor dem Ende der DDR verriet und sich in eine erhellende Distanz dazu brachte: Das Verhör von Andreas Sinakowski (BasisDruckVerlag).

Und wer kein Informant war? Kann er nicht sein Leben lustvoll gelebt haben? Richtig. Doch daß das MfS sein Leben nicht beieinflußt habe, daran mag glauben, wer seine Akten noch nicht gesehen hat. Das behauptet, wer nichts weiß — oder zuviel.

Ich zum Beispiel habe auch versucht, spielerisch mit politischen Fragen umzugehen. Vor allem nicht zum Spielball anderer zu werden, die bestimmen, wie man mit ihm umspringt. Das MfS lieferte auch für den Prenzlauer Berg eine lebensbegleitende Persönlichkeitsbeeinflussungsmaschinerie, die den einen fördert (Arbeitsplatz, Veröffentlichungsmöglichkeit, Wohnung), den zweiten behindert, beim Dritten unsicher ist (und ihm eine aushorchende Freundin zuführt). Und der vierte soll in den Westen oder den Alkoholismus gedrängt werden. Dafür gibt es Pläne, „Zersetzungsmaßnahmen“ (Punkt 1 bis 15), eine der beliebtesten und simpelsten: das Gerücht verbreiten, man sei bei der Stasi...

Darüber ein anderes Mal mehr. Und wenn die Bedingungen erhellt sind, unter denen die Literatur entstand, dann mag ein vielschichtiger Diskurs über die indirekten Einflüsse dieser Arbeit auf den Text an sich, auf die Literatur beginnen.

Jetzt soll ich vor eine Akademie gehn,/

sagte der Maler, soll erklären, wo es steckt,/

das Hierundheute in den Bildern. Weiß nicht,/

möchte ich sagen, zum Beispiel ihre Formate/

sind so klein, um sie tragen zu können/

unter dem Arm, wenn ich mal abhauen muß./

Nein, so einfach wie in diesem 83er Gedicht von L.R. sind die Beziehungen von Politik und Kunst nicht zu beschreiben. Doch wenn sich keiner um die Politik und die Beseitigung der DDR gekümmert hätte, wären Sätze wie die „Instruktiv-methodischen Hinweise für die Schaffung, Aufklärung, Dokumentierung und Planung zweitweiliger Isolierungsstüzpunkte“ auch für manchen Prenzelberger zumindest wohnortbeeinflussend geworden. Es ging um die Internierungslager, die „unabhängig von einer möglichen Nutzung im Verteidigungszustand (...) bereits in einer Spannungsperiode“ in Anspruch genommen werden sollten.

Damals mangelte es noch an potentiellen Lagern. Vielleicht wäre der gesamte Prenzlauer Berg eines geworden? Und ein hinreichend verkümmertes Wahrnehmungsvermögen gegenüber politischen Realitäten hätte es dem MfS ermöglicht, auf die sonst üblichen Wächter zu verzichten? War der Prenzelberg mindestens an einigen Orten schon so zu einem Ghetto geworden? Begrenzt von einer ganz spezifischen Ignoranz?

Lutz Rathenow