Pro Gerücht ein Freund

■ Loblied auf den etwaigen Spitzel Anderson

Sascha Arschloch“, schimpft der Dichter und macht sich öffentlich zum Richter. Die Nummer 7423/91 im Zusammenhang mit dem Namen Sascha Anderson, die ein Schriftstellerkollege Biermanns beim Recherchieren als Randnotiz in einer Stasi-Akte fand, reichte Biermann aus, um den Ostberliner Lyriker, der 1986 die DDR verließ und nach deren Rücktritt wieder hinzog, als Stasi-Spitzel zu denunzieren. Ohne Beweise, dafür mit großem Publikum.

Weil Biermann sich in der nach oben offenen Effekteskala nur noch an sich selber mißt, blieb es in der Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises auch nicht beim Abrechnen mit dem einen. Es wurden gleich 16 Millionen: „Meine lieben Ossis“, so der Wessi, „ich mag sie nicht mehr. Sie wurden mir vor 16 Jahren gestohlen, und nun können sie mir gestohlen bleiben.“ Da paart sich opferbeladene Arroganz mit intellektuellem Größenwahn. Wie viele Tränen werden „seine Ossis“ in Bitterfeld oder Wolfen, in Leipzig oder Rostock wohl nun vergießen? Keine! Es wird ihnen scheißegal sein. So scheißegal, wie Biermanns Rausschmiß 1975 den allermeisten Arbeitern und Bauern war. „Prima“, werden sie sagen, „du wurdest uns vor 16 Jahren gestohlen, und nun kannst du uns erst recht gestohlen bleiben.“

Daß es beim ersten Ich-bin-wieder-da-Konzert Biermanns im November '89 in der Leipziger Messehalle nicht warm wurde, lag nur zum Teil an der nicht funktionierenden Heizung. Zwischen denen unten und dem oben stand mehr als nur die Bühne. Es waren 14 Jahre, in denen sich die Auseinandersetzung mit dem Operettenstaat DDR auf eine Ebene verlagert hatte, die mit Biermanns kämpferischem Widerstand nur noch die Ursache, nicht aber mehr Weg und Ziel gemeinsam hatte. Eine neue Generation war da, und die hatte anderes im Sinn, als die DDR auf den richtigen, den wahren kommunistischen Weg zu bringen. Sie ließ den Staat DDR da liegen, wo er hingehören wollte: links.

Freiräume wurden erobert, abgetrotzt und verteidigt. Nicht nur am Prenzlauer Berg. In Dresden Neustadt, Leipzig, in „Kalle Malle“ (heute Chemnitz), überall gab es junge Menschen, die sich diesem System nicht in den Weg stellten, sondern ihm aus dem Wege gingen. Ganz bewußt und überlegt. Sie hatten die sozialistische Realität durchwachsen und dabei zwangsläufig festgestellt, daß sich dieses System im Absturz befand. Die meisten, also das Volk, fielen mit, zu feige, die Bremse zu ziehen. Der Rest, der das begriff, stieg einfach aus oder gar nicht erst ein, um sich bis zum Aufprall die Zeit zu versüßen.

Sie gingen nicht mehr arbeiten, besetzten Wohnungen, lebten vom Schmuckverkaufen und machten Kunst. Aber indem sie den Staat einfach ignorierten, schafften sie ihn ja nicht ab. Im Gegenteil — je weniger Interesse sie dem Staat gegenüber zeigten, um so mißtrauischer wurde der und steigerte seinerseits das Interesse an ihnen, proportional zur Verweigerung. Alles in dieser Szene war zwar freiwillig vom Standpunkt des einzelnen aus, aber gezwungenermaßen illegal vom Standpunkt des Staates aus. Der erkämpfte Freiraum war immer nur so groß, wie der Staat es zuließ. Das eigene Interesse und einzig Sinnvolle konnte nur sein, diesen Freiraum immer effektiver zu nutzen und ihn, ohne es zu zeigen, ständig zu vergrößern. Und das gelang.

Vielleicht war das nicht die Art von Heldentaten à la Havemann, die Wolf Biermann so sehr liebte. Aber man verfolgte ja auch nicht dessen Ziele. Es war eine Art von Widerstand, aus der sich heute ein Teil dieser trotzig-stolzen „Born in GDR“- Mentalität ableitet. Für so eine Entwicklung brauchte es Vorbilder, die die Möglichkeit eines solchen Lebens in der Wüste vormachten. Dazu gehörte Sascha Anderson.

Nicht nur im Prenzelberg, auch in Dresden hat er musiziert und gelesen, daß es eine Lust war. Solche Auftritte waren Balsam für die Seele. Jetzt „enthüllt“ Wolf Biermann, daß Sascha Anderson ein „Stasi-Spitzel“ sei. Sei, wohlgemerkt, nicht ist. Sein Beweis: ein Gerücht.

Und was nun? Stimmt es oder nicht?

Die Antwort ist unerheblich.

Nicht für die, denen Anderson wirklichen Schaden zugefügt hat. Der oder die stehe auf und zeige an.

Aber für die, welche die Abenteuer seiner illegalen Lesungen mitgemacht haben, den ersten Pogo bei seinen Konzerten getanzt haben. Denen kann es jetzt egal sein, wer sie damals in dem Gefühl bestärkte, in diesem Staat nicht allein mit ihrer Opposition zu sein. Wenn es die Stasi selber war — welch Ironie der Geschichte. Das MfS als Totengräber der Republik. Warum nicht?

Anderson hat recht, wenn er sagt, er hätte in den letzten Jahren mehr für die Infrastruktur dieser Art von Opposition getan als Biermann selber. Und wenn er das als Stasi-Spitzel getan hätte, dann ein Dankeschön an die Stasi. Wie wenig Biermann in der Lage ist, diese undogmatische Szene zu verstehen, zeigt zum einen seine böswillige Charakterisierung des Lyrikers als „unbegabten Schwätzer“, zum anderen seine These, daß „die Stasi ihre Kreaturen überall an die Spitze der Opposition setzte, um sie besser abbrechen zu können“.

Die Stasi hatte zwar Kreaturen, aber keinesfalls so gute, um sie an die Spitze zu setzen. Die Stasi besetzte die Spitzen nicht, sie benutzte sie. Gebildet hatten sie sich allein. Sie entstanden durch das Verlangen einzelner Gruppen, in diesem Staat „anders zu sein“.

Die Waffe der achtziger Jahre im Kampf gegen das System war die Verweigerung. Deshalb blieb dem Staat nur die Infiltration. Und das wußte jeder.

Je exponierter einer war, um so mehr Gerüchte von Stasi-Kontakt und Schlimmerem gab es über ihn oder sie. Hart gearbeitet wurde in der Gerüchteküche durch die Mielkeköche. Spezialität der Truppe: Spaltpilz. Pro Gerücht ein Freund. Man mußte sich entscheiden. Weitermachen oder aufgeben. Das war damals schwieriger, als es sich Biermann heute macht.

Anderson repräsentiert eine Generation, die, anders als Biermann, die Auseinandersetzung mit den Politbonzen nicht mehr als Kampf um die Realisierung politischer Ideale verstand. Wenn die Schriftsteller und Künstler der Müller/Wolf-Generation sich mit den zuständigen Genossen in der Abteilung Kultur um Zensur und Inhalte stritten, waren das Diskussionen eines elitären Kreises, die einen Zwanzigjährigen vom Prenzelberg nicht mehr interessierten. Der hatte sein Zuhause längst in einer Szene gefunden, die mit diesem Staat rein gar nichts mehr am Hut hatte. Egal, ob ein Exponent dieser Szene im Kontakt mit Mielkes Gurkentruppe stand. Wenn Sascha Anderson, den die FAZ einmal als „Zentralfigur der Subkultur vom Prenzlauer Berg“ bezeichnete, wirklich ein Stasi-Spitzel war, dann sage ich: „Solche Spitzel lob' ich mir.“

Lächerlich ist, wenn der 'Spiegel‘ schreibt, „das wäre der Totenschein für einen Mythos“. Das wäre erst die Pointe einer nur in der DDR denkbaren Inszenierung! Wenn er kein Spitzel war, dann um so besser.

Torsten Preuß