INTERVIEW
: „Die Roma zwischen zwei Feuern“

■ Rajko Djuric, Vorsitzender des Weltkongresses der Sinti und Roma, über die akute Bedrohung der Roma im jugoslawischen Bürgerkrieg

Der Schriftsteller und Journalist Rajko Djuric vertritt als Vorsitzender des Weltkongresses der Sinti und Roma die Interessen seines Volkes bei internationalen Organisationen — unter anderem auch der Roma- Flüchtlinge aus Rumänien und Jugoslawien. Der 44jährige, der unter anderem Gedichtbände sowie mehrere Studien über die Geschichte der Roma veröffentlicht hat, war bis vor kurzem Redakteur der Tageszeitung 'Politika‘. Vor wenigen Wochen mußte Djuric selbst aus Jugoslawien fliehen. Für die nächsten drei Monate wird er in Berlin leben. Was danach kommt, ist ungewiß.

taz: Warum haben Sie Jugoslawien verlassen?

Djuric: Der konkrete Anlaß war wohl ein Fernsehinterview, das ich drei Tage, bevor ich nach Berlin kam, in einem einigermaßen liberalen Kanal des Dritten Fernsehens in Belgrad gegeben habe. Ich habe ganz einfach den serbischen Präsidenten und seine Partei kritisiert und ihm vorgeworfen, ganz Jugoslawien mit Benzin übergossen zu haben, wobei es nun fast schon egal ist, wer mit den Streichhölzern ankommt und es anzündet. Meine Kritik richtete sich natürlich auch gegen den kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman. Ich habe bei diesem Interview gesagt, daß Milosevic und Tudjman Hammer und Amboß sind — und zwischen ihnen liegt Jugoslawien. Als unmittelbare Konsequenz bekam ich eine polizeiliche Vorladung zu einem „informativen Gespräch“. Das ist im übrigen eine stalinistische Vokabel. Ich bin nicht hingegangen und habe prompt den Einberufungsbefehl an die Front erhalten. Diesem Einberufungsbefehl bin ich natürlich nicht gefolgt, sondern statt dessen ausgereist.

Faktisch gelten Sie also als Deserteur?

Fakt ist, daß diejenigen, die nach Westeuropa kommen und nicht dem Einberufungsbefehl gefolgt sind, als Deserteure angesehen werden und ihnen schlimmstenfalls die Todesstrafe droht. Aber es sind keine Deserteure, sondern aufrechte Menschen. Jugoslawien ist zerfallen, es existiert nur auf dem Papier. Die jugoslawische Armee ist in diesem Moment die serbische Armee. Ich und viele meiner Freunde lehnen es ab, einer Armee anzugehören, deren Führer Milosevic ist. Denn wer dieser Vorladung folgt, muß Kroaten und Angehörige anderer Völker töten. Es hat Menschen gegeben, die es abgelehnt haben, auf das einfache Volk zu schießen. Sie wurden deshalb von den Offizieren erschossen.

Wichtig ist jedoch, daß die Kriegssituation für Milosevic eine ausgesprochen gute Chance ist, alle Dissidenten loszuwerden. Viele Oppositionelle haben über Nacht den Einberufungsbefehl bekommen. Dabei passiert es häufig, daß wichtige Leute der Opposition umgebracht werden. Die sind dann angeblich an der Front gefallen. Jetzt wissen Sie, warum ich Jugoslawien verlassen habe. Mein Sohn ist nach Wien geflohen, meine Frau ist noch in Belgrad, hält sich allerdings nicht mehr in unserer Wohnung auf, die im übrigen aufgebrochen und ausgeraubt worden ist.

Roma leben in Kroatien, Serbien, Mazedonien — sind also über die verfeindeten Republiken verteilt. Wären Sie der Einberufung gefolgt, hätten Sie folglich auf Angehörige Ihres eigenen Volkes schießen müssen...

Völlig richtig. Die Roma sitzen zwischen zwei Feuern. Für uns Roma ist dieser Krieg im wörtlichen Sinne ein Bruderkrieg.

Im jugoslawischen Bürgerkrieg geht es um die Eroberung von Territorien. Die Roma sind die einzige ethnische Gruppe, die kein Land haben und nie eines hatten. Droht ihnen nun, in diesem Konflikt zwischen den kämpfenden Parteien aufgerieben zu werden?

In dieser Phase der nationalen Verrücktheit in Jugoslawien sind alle nationalen Minderheiten und Gruppierungen bedroht. Aber für Albanier setzt sich Albanien ein, für die Ungarn Ungarn, für Bulgaren Bulgarien usw. Für die Roma jedoch setzt sich niemand ein, niemand interveniert zu ihren Gunsten. Für die Roma gibt es in dieser Situation überhaupt keine Sicherheit.

Von serbischer Seite wird eine systematische Vertreibungspolitik gegen die Kroaten aus den Gebieten betrieben, die die Serben für sich beanspruchen. Sind davon auch die Roma in Serbien betroffen?

Noch nicht, weil die Gegner von Milosevic keine Roma sind. Sie bedeuten für ihn keine Bedrohung und Gefahr. Doch das ist eine taktische Täuschung, denn in dem Moment, in dem die Territorien von Kroaten gesäubert sind, werden die nationalen Minderheiten dran sein. Mir sind einige der Parteien aus Belgrad bekannt, die faschistisch orientiert sind, die in ihren Programmen unter anderem ein „sauberes“ Serbien vorsehen. Und die Roma sind die ersten, gegen die man vorgehen wird.

Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat ein sogenanntes Rückführungsprojekt für Roma- Flüchtlinge nach Mazedonien initiiert. Halten Sie es für verantwortbar, zu diesem Zeitpunkt Roma- Flüchtlinge nach Jugoslawien zurückzuschicken?

Ich verstehe natürlich das Problem der deutschen Behörde, aber in dieser Situation handelt es sich tatsächlich um ein Volk, das keine Heimat hat. Ich war zum Beispiel als Berater tätig bei dem Film Time of the Gypsies. Wir kamen mit dem Team in Roma-Siedlungen in Mazedonien, wo Menschen in Häusern, die in die Erde eingebuddelt sind, leben. In Siedlungen, wo Menschen in Häusern aus Kartons und Plastiktüten leben. Familien mit sechs bis acht Kindern, die nicht mehr als ein Kilo Brot täglich haben. Ein Vater hat wortwörtlich folgendes gesagt. „Hier ist das Leben wie die Schlange, ich weiß nicht mehr, was ich mit mir und auch mit den Kindern machen soll. Ihr Leben zersetzt sich vor meinen Augen. Das einzige, was uns übrigbleibt, ist kollektiver Selbstmord.“ Es ist wirklich ein Volk ohne Heimat, ein Volk, das schon über tausend Jahre verfolgt wird, und ein Volk, das mit den Juden zusammen den Holocaust erlebt hat. Wo bleibt die menschliche und humanitäre Solidarität? In diesem Augenblick, wo Krieg in Jugoslawien herrscht, dürfen die Menschen nicht zurückgebracht werden. Wir haben vorgeschlagen, daß die Roma in Jugoslawien und aus Rumänien, die in diesem Augenblick sehr bedroht sind, in allen westeuropäischen Ländern Asylrecht erhalten. Sie sind wirklich vom Tode bedroht.

Die EG hat ja mit bisher eher kläglichen Ergebnissen versucht, im jugoslawischen Bürgerkrieg eine friedenstiftende Rolle zu spielen. Hat es zwischen Ihnen und der EG je Gespräche über die aktuelle Bedrohung der Roma gegeben?

Am 28. Mai gab es das erste offizielle Treffen von Roma-Repräsentanten mit EG-Vertretern. Wir haben die Notwendigkeit von gemeinsamen Kommissionen, in denen Roma und EG-Vertreter sitzen, besprochen. Und wir haben besprochen, daß diese Kommissionen Programme zur Integration der Roma erarbeiten. Und in Anbetracht der Tatsache, daß 70 Prozent von den insgesamt zwölf Millionen europäischen Roma in Osteuropa leben, also dort, wo die Wirtschaft vollkommen zerstört ist, dort, wo Menschen und Bürgerrechte immer noch unbekannt sind, wo kein Rechtsstaat vorhanden ist und der Nationalismus lodert — in Anbetracht dieser Tatsachen muß unser Volk durch rechtliche Maßnahmen geschützt werden. Zum Beispiel durch die permanente Präsenz solcher Kommissionen, die die Situation in den osteuropäischen Ländern und die Durchsetzung bestimmter Maßnahmen kontrollieren — unter anderem die rechtliche und politische Gleichstellung der Roma und ihre Vertretung im Parlament. Das gibt es im gewissen Maße bereits in Polen und der CSFR. Und wir fordern den von der Verfassung garantierten Schutz der nationalen und kulturellen Identität. Roma fordern nicht mehr als das, was die anderen nationalen Minderheiten in diesen Ländern schon haben.

Sie sind jetzt seit wenigen Wochen im Exil. Bereiten Sie sich auf eine lange Zeit in Deutschland vor?

Da ich aus Jugoslawien komme und auch die politische Situation kenne, ist meine absolute Überzeugung, daß in Jugoslawien der Frieden unmöglich ist, solange in Serbien Milosevic oder in Kroatien Tudjman an der Regierung sind. Ich fürchte, der Bürgerkrieg in Jugoslawien wird noch mindestens fünf Jahre, wenn nicht länger, anhalten. Ich persönlich möchte weder meine Familie noch mich in Lebensgefahr bringen. Ich habe alles in Jugoslawien zurückgelassen — meine Wohnung, meine Bibliothek —, weil ich mein Leben retten wollte. Die Tragödie in Jugoslawien ist, daß das Leben an sich keinen Wert mehr darstellt. Ich habe mich also entschlossen, in Deutschland zu bleiben — soweit man mich läßt. Das Gespräch führten

Anita Kugler und Andrea Böhm