Flüchtlinge zum „Zählappell“ befohlen

Im Kreis Siegen-Wittgenstein erhalten Asylsuchende nach Identitätskontrolle nur noch wochenweise Sozialhilfe  ■ Von Sabine am Orde

Siegen (taz) — Der Aachener Zählappell für Flüchtlinge, der vor einigen Wochen auf bundesweite Empörung gestoßen war, hat gestern im sauerländischen Kreis Siegen-Wittgenstein erstmalig Nachahmer gefunden. Allein die Stadt Siegen hatte etwa 650 Personen, darunter Säuglinge, Greise und schulpflichtige Kinder, in die Siegerlandhalle befohlen. Dort erhielten sie nach einer Identitätskontrolle einen Scheck über ihre Sozialhilfe — jedoch nur für eine Woche. Die Aktion soll mindestens noch dreimal wiederholt werden. Verantwortlich ist Kreisdirektor Winfried Schwarz (FDP), der damit vermeintlichen Doppelbeziehern von Sozialhilfe auf die Schliche kommen will. Von den 650 Geladenen sind, so schätzt das grüne Ratsmitglied Michael Groß, etwa drei Viertel in der Siegerlandhalle erschienen. Unter lauten „Aufhören"- Rufen zogen etwa 200 Menschen zum Kreishaus, um beim Kreisdirektor zu protestieren.

Für den Kreisdirektor hat die im Alleingang durchgeführte Aktion eine „bereinigende Wirkung“, die, so Schwarz, „die Vorurteile eher aufhebe als festige“. Darüber hinaus begründet er sein Vorgehen mit einer Empfehlung des nordrhein-westfälischen Sozialministers Heinemann vom September 1990, die nahelegt, die Sozialhilfe von Flüchtlingen auf Naturalien umzustellen und wöchentlich nur ein Taschengeld auszuzahlen. Dies stellt aber für die Kommunen keinerlei Verplichtung dar.

In der Stadt Siegen hat die Aktion, der keine parlamentarische Entscheidung zugrunde liegt, schon im Vorfeld zu heftigen Protesten geführt. Siegens Sozialdezernent Mock (SPD) wurde von Schwarz zur Durchführung des Zählappells gezwungen. Für die Aufdeckung von Doppelbeziehern hält Mock die Maßnahme des Kreisdirektors für unnötig. In der Stadt Siegen habe es bisher „erst zwei bis drei Verdächtigungen gegeben“. Solche Fälle könne man auch durch das Abgleichen von Sozial- und Ausländerakten aufdecken, was in Siegen sowieso geschehe. Zudem befürchtet Mock, daß die Maßnahme die Stimmung gegen Asylbewerber weiter anheize. Mit der Aktion werde nach Meinung der Grünen grundsätzlich jeder Flüchtling des Sozialhilfemißbrauchs beschuldigt und als „potentieller Betrüger abgestempelt“.

Einige der Betroffenen haben gegen die wöchentliche Auszahlung bereits Widerspruch eingelegt. Für eine generelle Abweichung von der üblichen monatlichen Zahlungsweise gibt es nach den Worten von Rechtsanwalt Bernd Philippsohn keine rechtliche Basis. Für den Fall, daß der Widerspruch abgelehnt wird, kündigte der Anwalt ein Pilotverfahren vor dem Verwaltungsgericht an. Dennoch hat Philippsohn seinen KlientInnen geraten, beim Siegener Zählappell zu erscheinen, denn ohne den Sozialhilfescheck wissen diese in der nächsten Woche nicht, wovon sie leben sollen.