Weiss und der Avantgardefilm

■ Das Filmmuseum Potsdam zeigt zur Peter-Weiss-Festwoche Filme von Peter Weiss

Im Jahr 1956 veröffentlichte Peter Weiss in Stockholm das Buch Avantgardefilm, das in den nächsten Monaten endlich in deutscher Übersetzung erscheinen soll. Den Terminus Avantgarde begreift Weiss in einem weiten Sinn, denn es war ihm bewußt, daß mit dem Begriff »Avantgardefilm« die experimentellen Produktionen der Stummfilmzeit gemeint sind. Der »Terminus umfaßt eine Auswahl von Werken aus unterschiedlichen Perioden, von dem Beginn des Filmes bis zu unseren Tagen, Werke experimenteller Art, die den Film als selbständige Kunstart weitergeführt haben«, schreibt Weiss im Vorwort des Buches. Es sind Filme, die nicht nach kommerziellen Gesichtspunkten konzipiert und verwirklicht wurden, sondern nach ästhetischen und politischen. Weiss erhob keineswegs den Anspruch, eine umfassende Filmographie geschrieben zu haben. »Im Grunde genommen nehme ich alle Filme auf, die ich liebe. Ich wählte die Filme, die für mich am schönsten und wichtigsten sind: die alten russischen Filme, die, die kurz nach der Revolution gedreht wurden, und die Filme von Jean Vigo und Luis Buñuel.«

Die »Internationale Peter Weiss Gesellschaft« mit Sitz in Hamburg und 230 Mitgliedern, darunter so illustre Namen wie Hans Mayer, Robert Jungk und George Tabori, veranstaltet vom 2. bis zum 10. November in Potsdam, der Geburtsstadt von Peter Weiss, ein Filmfestival mit dem Thema »Avantgarde im Film und Peter Weiss«. Bei der Auswahl hat sie sich an die besprochenen Filme aus dem Buch Avantgardefilm gehalten, dessen Spektrum von den Anfängen des Films bis in die 40er/50er Jahre reicht. Diese Filme haben die experimentelle Arbeit von Weiss, der sich 1952 der schwedischen »Arbeitsgruppe für Film« anschloß und bis 1960 rund ein Dutzend Experimental- und Dokumentarfilme gedreht hat, entscheidend beeinflußt. Auch seine Filme sollen auf dem Festival gezeigt werden.

So unter anderem sein erster Spielfilm Hägringen/Fata Morgana, den er nach seinem 1949 erschienenen Buch Dokument I drehte. Die Odyssee eines jungen Mannes durch die Stadt, in der er sich verloren fühlt und von der er nur Ablehnung erfährt. Es ist ein Film über das Schweigen, eines ziemlich beredten allerdings. Nur ab und zu ist Stimmengewirr zu hören, doch der junge Mann bleibt ausgeschlossen, ein paar Gesten des Mitleids sind sein einziger Kontakt zu den Bewohnern der Stadt.

Mit dem Dokumentarfilm Im Namen des Gesetzes waren massive Eingriffe der Schwedischen Zensurbehörde verbunden. Vier Meter dieses 18-Minuten-Films über die Probleme junger Gefängnisinsassen in Uppsala fielen der Schere zum Opfer. Um die im Gefängnis herrschende Sexualnot zu zeigen, hatten Weiss und sein Co-Regisseur Hans Nordenström eine Onanieszene angedeutet, die prompt unter den in Schweden selten angewandten Sittlichkeitsparagraphen fiel. Nachdem Weiss den Prozeß gegen die Zensurbehörde verloren hatte, leitete er den Film mit einem Vorspann ein, der die Doppelmoral der schwedischen Gesellschaft anprangert.

Im Gefängnis hatten die Filmemacher mit nichtverdeckter Kamera gearbeitet, die Gefangenen allerdings nur von hinten oder mit nicht deutlich erkennbaren Gesichtern gefilmt. »Die Beschränkung seiner Arbeitsbedingungen verwandelte Weiss in einen künstlerischen Vorteil. Die Gefangenen wurden in dem Film in eine anonyme, identitätslose Masse verwandelt. Auf diese Weise konnte Weiss beleuchten, wo die Strafe die Menschenwürde vernichtet«, schrieb ein Kritiker.

Gezeigt werden noch eine Reihe von kurzen Experimental- und Dokumentarfilmen, von denen einige neben Hägringen schon im Rahmen der Peter-Weiss-Ausstellung in der Akademie der Künste liefen. Warum sich Peter Weiss Anfang der 60er Jahre vom Medium Film verabschiedet hat, läßt sich beim Betrachten der Filme gut nachvollziehen. Schon in den 50er Jahren war der Experimental- bzw. Avantgardefilm von neuen Strömungen wie der »Nouvelle Vague« abgelöst worden. Deutlich wird auch, daß Weiss die Möglichkeiten des Tons und des Dialogs nicht genutzt hat. Wie ein mit Musik und Stimmengewirr unterlegter Stummfilm wirkt beispielsweise Hägringen. So hat die Vorführung seiner Filme allenfalls dokumentarischen Wert, können den Prozeß der Selbstfindung bis hin zum Schreiben sichtbar machen.

Anders verhält es sich mit den Filmen, die im Rahmenprogramm vorgestellt werden. Abgesehen von der Chance, Filmen wiederzubegegnen, die nur noch selten in den Kinos zu sehen sind, überzeugt die thematische Konzeption des Festivals. Experimentalfilmer, ehemalige Mitglieder der »Arbeitsgruppe für Film«, Filmhistoriker und Regisseure wurden als Referenten gewonnen, die mit Vorträgen die einzelnen Themenkomplexe einleiten. Aus der Fülle des Programms sei hier nur ein einziges angedeutet: Der surrealistische Film — unter anderem sind Cocteaus Le sang d'un poete, Filme von Germaine Dulac und (unverständlicherweise) Citizen Kane von Orson Welles zu sehen. Unter dem Stichwort »Filmische Experimente der künstlerischen Avantgarde« sieht man Arbeiten von Man Ray, Marcel Duchamp und René Clair. Filme von Vigo, Buñuel, Beispiele des amerikanischen Experimentalfilms und Menschen am Sonntag, eine Gemeinschaftsproduktion von Siodmak, Billy Wilder und Fred Zinnemann, sind ebenfalls Bestandteil des Programms. Wegen des abenteuerlichen Weges nach Potsdam — wenn man auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen ist — empfiehlt sich die Auswahl eines thematischen Blocks mit Referat und exemplarischem Film. Ein Muß ist aber die wunderbare Peter-Brook-Verfilmung von Peter Weiss' Marat/Sade mit der Royal Shakespeare Company.

Anläßlich des 75. Geburtstages von Peter Weiss finden noch eine Reihe von Lesungen seines Werkes statt. Am 8. November wird Weiss mit einem Festakt geehrt, auf dem seine Witwe Gunilla Palmstierna- Weiss, der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe und Hans Mayer über »Augenblicke mit Peter Weiss« sprechen werden. Anschließend soll eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus in Potsdam-Babelsberg angebracht werden. Elke Schubert

Heute: 18 Uhr Eröffnung des Filmfestivals, 20 Uhr Michael Esser, Kino der Grausamkeit , 20.20 Uhr Greed , Stroheim (USA 1923), 22.50 Uhr Diskussion

Filmveranstaltungen: Filmmuseum Potsdam, Karl-Liebknecht- Forum 1, Potsdam Tel.: 0037/33/23675, ausführliches Programm vor Ort