DEBATTE
: Wunderschöne Worte — Gegenteilige Taten

■ Michael Cramer, Abgeordneter von Bündnis 90/Grüne kritisiert das Verkehrskonzept der SPD/ »Allein verbale Beteuerungen werden keine lebendigen Stadtteile hervorbringen«/ Im Zweifelsfall entscheidet sich die SPD fürs Auto

Das Konzept der SPD-Fraktion zum städtischen Verkehr liest sich im großen und ganzen wie eine Kopie des entsprechenden fußgänger-, fahrrad- und öffentlichen verkehrsfreundlichen Verkehrskonzeptes der Fraktion Bündnis 90/ Grüne. Es handelt sich dabei um einen allgemein gefaßten Wunschkatalog, gegen den wahrscheinlich außer den autofixierten Geschwindigkeitsfetischisten in dieser Stadt niemand etwas haben kann. Allein die Fakten und die konkrete Politik der SPD-Fraktion sprechen dagegen.

SPD: Saubere Luft — weniger Lärm für die Metropole

Die Silbersteinstraße in Neukölln ist die am höchsten belastete Straße von Lärm und Schadstoffen in ganz Berlin. Unsere Fraktion hat dazu einen entsprechenden Antrag eingebracht, der diese Straße zur Tempo-30-Zone erklärt und den LKW- Verkehr umleitet. Dieser Antrag wird von der Neuköllner SPD bekämpft, im Abgeordnetenhaus in den Ausschüssen immer wieder vertagt.

SPD: Lebenswerte Innenstadt — lebendige Stadtteile

Auch diesem Ziel stimmen wir zu. Allerdings wurde jetzt im Verkehrsausschuß unser Antrag, der diese Ziele konkretisiert, mit den Stimmen von SPD und CDU abgelehnt. Allein verbale Beteuerungen werden keine lebenswerte Innenstadt und lebendige Stadtteile hervorbringen.

Fußgänger verdienen einen besonderen Schutz und eine besondere Förderung

Auch dem ist nichts hinzuzufügen. Unserem Antrag, auf die Verschmälerung der Gehwegbreite am Umsteigeknoten U- und S-Bahnhof Neukölln zugunsten einer zusätzlichen Rechtsabbiegespur in die Saalestraße für den Autoverkehr von 6,75 Meter auf vier Meter zu verzichten, konnte die SPD-Fraktion nicht zustimmen. An diesem Bahnhof werden also die Fußwege um fast fünfzig Prozent verkleinert, während die Fahrgastzahlen um mehr als das Dreifache steigen werden.

Unsere Anträge auf Einrichtung von Zebrastreifen wurden ebensowenig geteilt wie die Ausweitung verkehrsberuhigter Bereiche mit Schrittgeschwindigkeit. Offensichtlich benutzt die SPD die Forderungen nach mehr Tempo-30-Straßen gleichzeitig zum Abbau von verkehrsberuhigten Bereichen. Im Hauptausschuß wurden von der SPD-Fraktion alle Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung zusammen mit der CDU gestrichen.

SPD: Ausbauplan »Fahrrad in der Stadt«

Auch wir unterstützen das Votum zum Fahrradverkehr und fordern die Anlagen von Fahrradstreifen. Allerdings hatte der Hauptausschuß Fahrradstreifen in der Albrechtstraße abgelehnt, die noch von Rot-Grün unter der Brücke vorgesehen waren. Der Fahrradverkehr wird dort wieder auf den Bürgersteig verbannt, zugunsten einer vierten Spur für den Autoverkehr. Auch in der Reinickendorfer Teichstraße will die SPD-geführte Bauverwaltung den von Rot-Grün beschlossenen Fahrradstreifen aufheben und den Fahrradverkehr auf einen Streifen auf den Bürgersteig verbannen.

SPD: Öffentlichen Stadtverkehr ausbauen, den Verkehrsverbund schaffen

Auch wir unterstützen, daß die »Bevorzugung des ÖPNV dringender denn je« ist. Nur verstehen wir nicht, daß dann die SPD-Fraktion im Konfliktfall immer wieder dem Auto den Vorrang einräumt, zum Beispiel die einspurige Straßenbahnführung auf der Bösebrücke zugunsten des Autoverkehrs, den vierspurigen Ausbau auf der Oberbaumbrücke unter Verzicht auf die Straßenbahn, den zum größtenteil sechsspurigen Ausbau der Waltersdorfer Chaussee ohne Planfeststellungsverfahren und ohne Berücksichtigung von Straßenbahn oder U-Bahn.

Auch die SPD will die »schnellstmögliche Schließung« aller Umlandverbindungen der S-Bahn. Warum hat sie dann alle unsere Anträge abgelehnt beziehungsweise die konkreten Daten zur Inbetriebnahme herausgestrichen? Warum schweigt sie zur provisorischen Inbetriebnahme der S-Bahn im 20-Minuten-Takt nach Tegel, die ebenfalls in wenigen Monaten realisierbar ist?

Das verbale Bekenntnis zur Straßenbahn wird auch von uns unterstützt, ebenso wie die SPD-Forderung, der Straßenbahn die Priorität einzuräumen. Unsere entsprechenden Straßenbahnanträge wurden weder öffentlich gestützt, noch in den Ausschüssen behandelt. In keinem Konfliktpunkt wurde Position bezogen. Die SPD schweigt dazu, daß sie zusammen mit der CDU festgelegt hat, daß von den mehr als einer Milliarde Mark für Verkehrsleistungen im Jahre 1991 35 Millionen und im Jahr 1992 lediglich 23,6 Millionen für die Straßenbahn aufgebracht werden.

Die Busspuren sollen zwar nicht aufgehoben, aber eventuell dem Dienstleistungs- und Wirtschaftsverkehr zur Verfügung gestellt werden. Das bedeutet, daß die BVG-Busse wieder auch in den Straßen im Stau stehen, in denen Busspuren existieren, weil in der Innenstadt der Dienstleistungsverkehr nach Angaben der Verkehrsverwaltung 80 Prozent des heutigen Bestandes ausmacht. Daß die Ausdünnung des Busnetzes nicht stattfinden darf, ist ein frommer Wunsch angesichts der Tatsache, daß ohne vorherige Ankündigung zum 1. Oktober auf mehr als 30 Buslinien das Angebot eingeschränkt worden ist.

SPD: Autoverkehr stadtverträglich

Natürlich freuen wir uns, daß auch die SPD für die Einführung des Stockholmer Modells ist, das heißt, daß Autofahrer nur noch mit Umweltkarte an der Windschutzscheibe den inneren S-Bahn- Ring befahren dürfen und daß aus diesem Gebiet der Durchgangsverkehr rausgehalten wird. Gerade das waren aber die Gründe, die dazu geführt haben, unseren Antrag abzulehnen. Insofern trifft die SPD-Fraktion sich hier mit den Vorstellungen der Senatoren Haase und Hassemer, die grundsätzlich auch für derartige Maßnahmen sind — allerdings erst im Jahr 2000.