Rauchende Colts in Texas

Wissenschaftler beobachteten drei Jahre lang den Schußwaffen-Einsatz in einer texanischen Stadt.

Die US-amerikanische Bevölkerung dezimiert sich von eigener Hand. Die Zahl der Toten und Verletzten durch Schußwaffen nimmt rasant zu. Mehr als 30.000 Amerikaner sterben inzwischen jährlich an einer Kugel, 140.000 werden verletzt. Von 100.000 Amerikanern werden in jedem Jahr 113 Personen angeschossen oder erschossen. Diese Zahl ist mehr als zweimal so hoch wie die der jährlichen Fälle von Lungenkrebs (52 auf 100.000) in den USA. Auch Kinder und Jugendliche bleiben nicht verschont: In der Nation, die der „neuen Weltordnung“ vorsitzen will, ist jeder zehnte Todesfall bei Heranwachsenden unter 19 Jahren das Opfer einer Schießerei. In der Bundesrepublik kommen nach Angaben des Bundeskriminalamts auf 100.000 Einwohner nicht mehr als sieben Schießereien, wobei die Zahl der Schußwaffenverletzten nicht erhoben wird.

Die texanische Wissenschaftlergruppe von Roberta Lee hat in einer bisher einmaligen Untersuchung in einer amerikanischen Mittelstadt drei Jahre lang die Schußwaffenverletzten und -toten registriert und alle Fälle minutiös ausgewertet ('American Journal of Epidemiology, Nr.5/91). Die Stadt heißt Galveston, zählt 60.000 Einwohner und liegt 80 Kilometer südlich von Houston, am Golf von Mexiko, in Texas. In dieser Stadt wurden innerhalb von drei Jahren 239 Personen durch den Einsatz von Schußwaffen verletzt, davon starben 71 an den Folgen. Die Zahl der Verletzten und Getöteten entspricht einer Rate von jährlich 128 Fällen auf 100.000 Einwohner und liegt damit über dem amerikanischen Durchschnittswert. Dies ist keineswegs überraschend, denn die Südstaaten der USA haben Jahr für Jahr eine deutlich höhere Gewaltkriminalität als der Norden.

Verteilt auf die einzelnen Delikte ergibt sich für die 239 Fälle von Galveston folgendes Bild: 169mal wurde Mord oder Totschlag registriert, 32mal versuchter oder vollzogener Selbstmord. 19 Personen wurden unbeabsichtigt beim unsachgemäßen Hantieren mit der Waffe angeschossen, 19 Fälle konnten nicht eindeutig klassifiziert werden.

Wer angesichts der hohen Rate von Mord und Totschlag an Raubüberfälle und Einbrüche denkt, liegt falsch. In den drei Jahren des Beobachtungszeitraums waren lediglich zwei Schußverletzungen auf Einbrecher und Räuber zurückzuführen. Die eindeutig häufigste Ursache für den Einsatz von Revolvern und Gewehren waren Streitigkeiten innerhalb der Familie sowie mit Freunden und Bekannten. Auch auf Nachbarn und Mitarbeiter wurde häufig angelegt. In 69 Prozent aller Fälle von Mord und Totschlag standen Täter und Opfer in einer engeren Beziehung.

Detailliert haben die texanischen Forscher auch über Hautfarbe, Geschlecht und über den sozialen Status der Opfer von Schießereien Buch geführt. Die am stärksten gefährdete Berufsgruppe sind erwartungsgemäß Polizisten mit 366 Toten auf 100.000 Beamte. Diese hohe Rate hat ihre Ursache allerdings weniger in dem gefährlichen Job als in der ungewöhnlich hohen Selbstmordrate. Zwei Drittel aller Todesfälle bei Polizisten sind Suizide mit der Dienstwaffe. Jetzt darf spekuliert werden, ob die Ordnungshüter besonders selbstmordgefährdet sind ober ob die ständige Verfügbarkeit einer tödlichen Waffe bei dieser Berufsgruppe die Selbstmordrate nach oben treibt. Der farbige Bevölkerungsanteil von Galveston war dreimal so häufig in Schießereien verwickelt wie der weiße, männliche Einwohner wurden fünfmal so oft niedergestreckt wie weibliche. Jeder zweite Schußwechsel (46 Prozent) geschah in den heimischen vier Wänden von Galveston, jede vierte Schießerei (24 Prozent) auf offener Straße und jede fünfte (17 Prozent) in Bars und Kneipen.

Eine heilsame Wirkung darf sich von solchen Untersuchungen niemand versprechen. Im Gegenteil: Die Waffenschränke von New York bis Los Angeles werden weiter hemmungslos aufgerüstet. Erst vor wenigen Tagen hat das US-Repräsentantenhaus mit 247 zu 177 Stimmen ein Verkaufsverbot von Maschinenpistolen und Schnellfeuerwaffen abgelehnt. Dies geschah zwei Tage nachdem der Killer von Killeen in einer texanischen Cafeteria 24 Menschen erschossen hatte. Die Logik der Amerikaner: Wären die Kaffeehausbesucher bewaffnet gewesen, hätte man den Amokläufer frühzeitig erschießen können.

Manfred Kriener